Michael Heymel: Martin Niemöller. Vom Marineoffizier zum Friedenskämpfer, Heidelberg: Lambert Schneider 2017, 320 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-650-40196-0, EUR 29,95
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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat kein anderer Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland so sehr polarisiert wie Martin Niemöller. War er für die einen ein "Prophet des Friedens" (Walter Jens), so unterstellten ihm andere ein "ganz banales Pharisäertum" oder "christlich eingekleidete Demagogie" (Theodor Heuss). Michael Heymel lässt keinerlei Zweifel daran, zu welcher Einschätzung er in seiner Biographie neigt, die Mitte Januar 2017 beim offiziellen Festakt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) anlässlich des 125. Geburtstages von Martin Niemöller vorgestellt wurde. Heymel, habilitierter Theologe, möchte "aus theologischer und zeitgeschichtlicher Perspektive" (10) das spannungsreiche Leben Niemöllers nachzeichnen, wobei ein "historisch-kritische[r] Ansatz [...] jede Form hagiographischer Biographik" (11) unmöglich machen soll.
Dass dieses hehre Ziel nicht erreicht wird, hat gleich mehrere gewichtige Ursachen. Da wären zunächst eine ungenügende Rezeption von Ergebnissen der (kirchlichen) Zeitgeschichtsforschung der letzten zwanzig Jahre und eine mangelnde historische Einbettung. Stattdessen orientiert sich Heymel sehr, für eine Biographie mit wissenschaftlichem Anspruch zu sehr an Niemöller-Biographien zurückliegender Jahrzehnte. Wer die angejahrten Arbeiten von Dietmar Schmidt (1959), Jürgen Schmidt (1971), James Bentley (1985) und Matthias Schreiber (1997) kennt [1], der erlebt bei vielen ausführlichen Zitaten, Schilderungen und Bewertungen ein Déjà-vu. Geradezu ärgerlich wird diese enge Anlehnung, wenn Übernahmen aus anderen Werken nicht als solche kenntlich gemacht werden und zudem so unachtsam erfolgen, dass Fehler [2] oder Sinnentstellungen [3] die Folge sind.
Erschwerend hinzu kommt ein zu gering ausgeprägtes Gespür für Grundsätze der Quellenkritik. Rückblickende Einschätzungen von Martin Niemöller sowie von dessen jüngerem Bruder Wilhelm, dem wohl publikationsstärksten Vertreter einer "familiennahe[n] Hagiographie des radikalen Flügels der Bekennenden Kirche" [4], werden nicht nur unhinterfragt übernommen. Vielmehr scheint der Grundsatz zu gelten, dass man erst aus Memoiren oder retrospektiven Aussagen von unmittelbar Beteiligten erfährt, wie es eigentlich gewesen sei. [5]
Zu erklären sind diese Gravamina wohl mit der offenkundigen Bewunderung des Autors für seinen Untersuchungsgegenstand, den "prophetischen Prediger" (Kapitel 4) Niemöller, jene "Figur von Weltrang" (260), den "[j]edes Schulkind in den USA" (9) als Mann des Widerstands kenne und der sich durch Mut, Ausdauer, Zivilcourage, Charakterfestigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Lernbereitschaft, Unbestechlichkeit des Urteils, Ablehnung jedes Freund-Feind-Denkens und einen klaren Blick für die Realitäten auszeichne (10, 15, 224). Umgekehrt erscheinen die innerkirchlichen wie politischen Widersacher Niemöllers nach 1945 als reine Dogmatiker oder Ideologen, die "blindwütig" (240) einem manichäischen Weltbild anhingen; kritische Forschungen und Veröffentlichungen werden mit dem Etikett "Niemöller-Gegner" abqualifiziert (90 mit Anm. 214 und 215). Hier fühlt sich der Leser zurückversetzt in erinnerungspolitische Grabenkämpfe längst vergangener Zeiten.
All dies sind keine guten Voraussetzungen für eine - so der Klappentext - Neu-Erzählung von Niemöllers Leben, zumal die beanspruchte "souveräne Quellenkenntnis" des Autors sich nicht im Text niederschlägt. Aus dem umfangreichen Nachlass Niemöllers wird allenfalls punktuell und selektiv zitiert, eine systematische Auswertung liegt der Biographie jedenfalls nicht zugrunde. Zudem werden selbst einschlägige Quelleneditionen nicht herangezogen.
Gleichwohl handelt das Buch von einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, die viel verrät über die (Irr-)Wege des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert. Heymel gliedert seine Biographie in sechs weitgehend chronologisch angelegte Kapitel, wobei das erste Kapitel den weiten Bogen von der Geburt 1892 im westfälischen Lippstadt bis zu den Anfängen seiner Pfarrtätigkeit in Berlin-Dahlem zu Beginn der 1930er Jahre spannt. Zu Recht betont der Autor die deutschnationale Gesinnung des lutherischen Pfarrhauses, in dem Martin Niemöller aufwuchs, und wo unzweifelhaft der Grundstein für dessen lebenslange nationalprotestantische Gesinnung gelegt wurde. Auch der frühzeitige Berufswunsch, in der Marine zu dienen, dürfte in dieser Atmosphäre gediehen und gefördert worden sein. Dem Eintritt in die Kaiserliche Marine im Jahr 1910 folgte nach Kriegsbeginn die freiwillige Meldung zur U-Boot-Flottille, in der Niemöller zuletzt als Kommandant am uneingeschränkten U-Boot-Krieg des Deutschen Reiches teilnahm - eine prägende, zeitlebens von ihm mit Stolz erinnerte Erfahrung.
Als überzeugter Monarchist und Verfechter der Dolchstoßlegende lehnte Niemöller die Weimarer Republik ab, der er auch nicht im Militär dienen wollte. Politisch führte sein 1920 begonnenes Theologie-Studium in Münster nicht zu einem Umdenken - im Gegenteil. Als Mitglied einer deutschnationalen Studentengruppe sympathisierte Niemöller mit den Kapp-Putschisten, er störte "demokratisch ausgerichtete Hochschulversammlungen" (32) und wählte seit 1924 die NSDAP.
Bekanntheit erlangte Niemöller zu Beginn der 1930er Jahre als couragiert gegen nationalsozialistische Übergriffe in den kirchlichen Raum predigender Pfarrer in Berlin-Dahlem. Die kenntnisreichsten Passagen des Buches finden sich jeweils dort, wo Heymel - Herausgeber einer kritischen Ausgabe der "Dahlemer Predigten" [6] - auf den Prediger Niemöller zu sprechen kommt. Hier wird das lebendige Bild eines charismatischen Kanzelredners gezeichnet, dessen Gottesdienste überfüllt waren und den zunehmend die Frage bedrängte, ob ein Christ selbst einem Unrechtsstaat gegenüber Gehorsam schuldig sei.
Unverständlich hingegen ist die Entscheidung des Autors, den Dahlemer Prediger und Pastor einer Bekennenden Gemeinde (1931-1937) noch vor einer Schilderung von Niemöllers "Weg in die kirchliche Opposition" (Kapitel 2) abzuhandeln. Dies trägt dazu bei, dass keine verständliche, zusammenhängende Erzählung des hochkomplexen und voraussetzungsreichen "Kirchenkampfes" gelingt, dessen Kenntnis von so zentraler Bedeutung für die innerprotestantischen Konflikte nach 1945 ist. Vielmehr wird der Leser mit Institutionen und Fraktionen, Begriffen und Personen konfrontiert und in aller Regel alleingelassen. [7] Zentrale Fragen etwa nach dem Antisemitismus Niemöllers, nach den Etappen und der Reichweite seiner Abgrenzung vom Nationalsozialismus oder nach den Kategorien von Widerstand, Opposition, Protest, Dissens oder Nonkonformität werden widersprüchlich beantwortet [8] oder gar nicht erst gestellt.
Das dritte Kapitel profitiert von der Dramatik des geschilderten Inhalts. Nach kontinuierlichen Bespitzelungen durch die Gestapo und zwischenzeitlichen Verhaftungen wurde Niemöller im März 1938 - auf Veranlassung Hitlers? (92) - in das KZ Sachsenhausen gebracht, von 1941 bis 1945 war er Häftling im KZ Dachau. Die unmenschlichen Haftbedingungen trieben ihn in eine bis zur Todessehnsucht reichende Depression. Sein nach Kriegsbeginn an Erich Raeder gerichtetes Gesuch um eine Verwendung im Kriegsdienst wollte Niemöller nach 1945 als Versuch verstanden wissen, "als Offizier seinen aktiven Widerstand gegen Hitler wieder aufnehmen zu können." (97) Gleichfalls irritieren mögen Niemöllers zwischenzeitliche Sympathien für eine Konversion zum Katholizismus.
Hinlänglich bekannt sind die im vierten Kapitel in sehr groben Zügen beschriebenen Aktivitäten und Stellungnahmen Niemöllers in der Nachkriegszeit: von den innerkonfessionellen Kontroversen beim Neuaufbau der Landeskirchen und der EKD über die Kritik Niemöllers an der Entnazifizierung sowie an einem lutherischen Konfessionalismus bis hin zu seinem nachdrücklichen Bekenntnis zu individueller wie kirchlicher Schuld in den Jahren des Nationalsozialismus.
Als Kirchenpräsident der EKHN (1947-1964), dem das fünfte Kapitel gewidmet ist, bemühte sich Niemöller in Abgrenzung von "restaurativen" (196) lutherischen Landeskirchen um die Verwirklichung seiner ekklesiologischen Ideale: Stärkung des synodalen Prinzips, Zurückweisung bischöflicher Hierarchien zugunsten einer kollegialen Leitung und Betonung der Kirchengemeinde als eigentliche Wurzel allen kirchlichen Lebens. Der Autor, selbst langjähriger Pfarrer der EKHN, macht kein Hehl aus seinen Sympathien für eben jene Prinzipien wie auch aus seiner Ablehnung ihrer Aufweichungen im Zuge von Strukturreformen seit den 1990er Jahren.
Das letzte Kapitel über "Niemöllers Weg zum radikalen Pazifisten" behandelt jene Themen und Aktionsfelder, die zu Niemöllers Bekanntheit weit über die Grenzen der hessen-nassauischen Kirche hinaus beigetragen haben: als Akteur der Ökumene, als Kritiker der Regierung Adenauer und ihrer Politik der Westintegration und Wiederbewaffnung sowie als Friedensaktivist. Ein wesentlicher Impuls für Niemöllers streitbares Auftreten in der Öffentlichkeit war die Lehre, dass sich die Kirche kein zweites Mal "in ein Leben frommer Innerlichkeit zurückziehen" (163) dürfe. Bei der Schilderung seiner offensiven Interpretation eines prophetischen Wächteramtes kann sich Niemöller der zustimmenden Kommentierung des Autors gewiss sein - ob Moskau-Reise, Kritik an der (so Heymel) "von den Siegermächten verordnete[n] Parteiendemokratie" (200) oder Ablehnung der Westintegration: Stets geben Niemöllers eigene Deutungen den Grundton der Schilderungen vor; man verfolgt das Wirken eines ernsthaft besorgten, weit- und umsichtigen Christen, der die Scheidung der Welt in Freund und Feind zu überwinden und "eine Katastrophe zu verhindern" (213) trachtete. Der rigorose, politisch vielfach allzu naive Gesinnungsethiker Niemöller, dessen Wortmeldungen in der frühen Bundesrepublik von einem geradezu militanten Anti-Amerikanismus und Anti-Katholizismus geprägt waren, bleibt dem Leser hingegen verborgen. Diese Einseitigkeit des Urteils lassen auch die Versuche Heymels zur Aktualisierung von Niemöllers Erbe als allzu bemüht erscheinen.
Nein, bei dieser Biographie handelt es sich nicht um eine Neu-Erzählung des Lebens von Martin Niemöller. Hierfür wären eine stärkere zeitgeschichtliche Kontextualisierung, eine intensivere Rezeption der Forschung, eine größere innere Distanz zum Protagonisten, eine ebenso mühevolle wie lohnenswerte Auswertung des Nachlasses von Martin Niemöller sowie darauf aufbauend die Entwicklung neuer, eigenständiger Thesen erforderlich gewesen.
Anmerkungen:
[1] Dietmar Schmidt: Martin Niemöller. Eine Biographie, Hamburg 1959, erweiterte Neuausgabe, Stuttgart 1983; Jürgen Schmidt: Martin Niemöller im Kirchenkampf, Hamburg 1971; James Bentley: Martin Niemöller. Eine Biographie, München 1985; Matthias Schreiber: Martin Niemöller, Reinbek 1997; ferner: Protestant - Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller. Katalog zur Ausstellung zum 100. Geburtstag, Frankfurt/M. 1992.
[2] So wird bei Heymel aus dem Dortmunder Pfarrer Gerhard Stratenwerth der "neue Bischof der westfälischen Kirche", der dafür gesorgt habe, dass Niemöller "einer der 'Adjutanten' von Bodelschwinghs wurde." (62). Bekanntlich steht der Evangelischen Kirche von Westfalen ein Präses vor. Bei M. Schreiber (Anm. 1) heißt es korrekt: "Sofort berief der neue Bischof [Friedrich von Bodelschwingh; K.B.] den westfälischen Pfarrer Gerhard Stratenwerth und Martin Niemöller [...] zu seinen Assistenten." (54)
[3] Vgl. M. Schreiber (Anm. 1): "So war es folgerichtig, ein eigenes Leitungsgremium zu bilden, den zweiundzwanzigköpfigen sogenannten Bruderrat, dem auch Martin Niemöller angehörte. Im Führerstaat gab sich die Bekennende Kirche ein Rätesystem!" (67f.) Die hier vorgenommene Kontrastierung von Führerstaat und Rätesystem läuft bei Heymel (68) durch die Streichung des Rätesystem-Hinweises ins Leere: "Sie bildeten - im Führerstaat! - ein eigenes Leitungsgremium, den 22-köpfigen sog. Bruderrat, dem auch Martin Niemöller angehörte."
[4] Christiane Kuller und Thomas Mittmann: "Kirchenkampf" und "Societas perfecta". Die christlichen Kirchen und ihre NS-Vergangenheit, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2014, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/kirchenkampf-und-societas-perfecta.
[5] "Was Niemöller tatsächlich meinte, darüber geben erst nachträgliche Äußerungen Auskunft." (199)
[6] Dahlemer Predigten. Kritische Ausgabe, hg. von Michael Heymel im Auftrag des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Gütersloh 2011.
[7] So erfährt man etwa, dass Niemöller gegen die Kirchenausschüsse gekämpft habe und deshalb in die politische [!] Illegalität geraten sei (44), aber was sich hinter jenen Kirchenausschüssen verbirgt, bleibt völlig unklar. Gleiches gilt u.a. für die Deutsche Evangelische Kirche, den Lutherrat, das Kirchliche Notrecht, die Vorläufigen Kirchenleitungen oder die verschiedenen kirchenpolitischen Positionen des NS-Regimes wie auch der bekenntniskirchlichen Gruppierungen.
[8] Einerseits verweist Heymel auf den überzeugenden Befund von Leonore Siegele-Wenschkewitz, dass Niemöller jenen christlich-sozial und deutschnational orientierten Protestanten zuzurechnen sei, "für die Antisemitismus ein kultureller Code war", andererseits stellt er die These auf, dass "Antisemitismus [...] für Niemöller schon vor 1945 gleichbedeutend mit Antichristentum" (186) gewesen sei.
Kristian Buchna