Bernhard Emunds / Hans Günter Hockerts (Hgg.): Den Kapitalismus bändigen. Oswald von Nell-Breunings Impulse für die Sozialpolitik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 276 S., ISBN 978-3-506-78117-8, EUR 29,90
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Der nach 1989 global gewordene (Finanz-)Kapitalismus erscheint heute außer Rand und Band. Daran hat offensichtlich auch die mit dem Jahr 2007 beginnende größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit den späten 1920er-Jahren wenig geändert. Was hätte Oswald von Nell-Breuning (1890-1991) wohl zur neuerlichen schweren Krise des Liberalkapitalismus gesagt? Er hatte als junger Mann die Weltwirtschaftskrise und den Zusammenbruch des Weimarer Sozialstaats sehr bewusst erlebt und nie verhehlt, dass diese Erfahrung tiefe Spuren in seinem wirtschafts- und sozialpolitischen Denken hinterlassen hat. Die Bändigung und Zähmung dieses "wie ein wildgewordener Elefant dahin stürmenden Liberalkapitalismus" [1] war das Lebensmotto von Nell-Breunings, das er beginnend schon in den 1920er-Jahren in den Auseinandersetzungen um die bundesrepublikanische Sozialordnung beharrlich verfolgte. Es liegt also nahe, von Nell-Breunings sozialpolitisches Denken unter den neuen Bedingungen kapitalistischer Entfesselung nach den Wegen und Chancen einer neuerlichen Bändigung des Kapitalismus zu befragen. Diesem verdienstvollen Unternehmen ist der vom Wirtschaftsethiker und Nach-Nachfolger von Nell-Breunings in Frankfurt Bernhard Emunds und dem Münchener Kenner der deutschen Sozial- und Zeitgeschichte Hans-Günter Hockerts herausgegebene Band gewidmet. Er setzt sich zum Ziel, die sozialpolitischen Ideen von Nell-Breunings herauszuarbeiten, "diese in ihren zeitgenössischen Kontext einzuordnen und sie nach möglichen Inspirationen für heutige politische Debatten zu befragen" (12).
Die Auseinandersetzung mit der sozialpolitischen Ideenwelt von Nell-Breunings geschieht in sieben gut ausgewählten Themenblöcken, die schon von den Problemstellungen her auf die Aktualität des sozialpolitischen Denkens von Nell-Breunings hinweisen. Am Beginn steht die Kapitalismuskritik von Nell-Breunings, die in ihren Kernargumenten und Wandlungen von Hermann-Josef Große-Kracht überzeugend rekonstruiert wird (27-41). Im Titel ist von "prokapitalistischen Anfängen" von Nell-Breunings die Rede, was im Text selbst stark relativiert und zu Recht in den Rahmen der Unterscheidung zwischen ethisch indifferenter kapitalistischer Wirtschaftsweise und abzulehnender kapitalistischer Klassengesellschaft gerückt wird. Berthold Vogel artikuliert die Kapitalismuskritik von Nell-Breunings unter den Stichworten "Institutionengerechtigkeit und Solidarität", wobei der Stachel der Kapitalismuskritik von Nell-Breunings eher an Schärfe verliert (43-51). Der zweite Themenblock ist einem der Kernanliegen von Nell-Breunings in der frühen Bundesrepublik, der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, gewidmet. Im ersten Beitrag hebt Hans-Günter Hockerts hervor, dass von Nell-Breuning - in der Tradition des Sozialkatholizismus stehend - den Ausschluss der Mehrheit der Bevölkerung vom Investiv- und Produktivkapital kritisierte und eine möglichst breite Streuung des Privatvermögens forderte (53-71). Die westdeutsche Vermögenverteilung sei - in den Worten Paul Jostocks ausgedrückt - "ein Skandal, der nach Abhilfe schreit". [2] Abhilfe sollte hier der "Investivlohn" schaffen. Mit der Verankerung des Investivlohns im Tarifvertrag der IG Bau-Steine-Erden mit Georg Leber an der Spitze schaffte von Nell-Breuning sogar einen vielbeachteten Durchbruch. Er musste aber bald einsehen, dass es sich bestenfalls um einen Pyrrhussieg handelte, was ihn seit Mitte der 1960er-Jahre veranlasste, seine Hoffnungen hinsichtlich der Eindämmung und Machtkontrolle im Kapitalismus von der Vermögensbildung weg auf die Mitbestimmung zu richten. Die Kämpfe um eine gerechtere Vermögensverteilung im Kapitalismus, so resümierte schon 1980 von Nell-Breuning selbst und mit ihm heute Hockerts mit Blick auf die noch extremere gegenwärtige Vermögensverteilung, haben keinen Erfolg gehabt. Im zweiten Beitrag zur Vermögensbildung stellt Bernhard Emunds einen interessanten Vergleich zwischen von Nell-Breunings Position und den Thesen des französischen Ökonomen Thomas Piketty an (73-94). Im Anliegen, der starken Vermögenskonzentration entgegenzuwirken, liegen beide - so hebt Emunds hervor - auf einer gemeinsamen Linie. Während von Nell-Breuning mit der Förderung der Vermögensbildung eine grundlegende Strukturveränderung der Reichtumsproduktion in der Privatwirtschaft anstrebte, plädiere Piketty heute lediglich dafür, "die Vermögensbildung der reichsten Schicht durch hohe Steuersätze einzuschränken" (91).
Im dritten Themenblock geht es um die schon angesprochene wirtschaftliche Mitbestimmung im Denken von Nell-Breunings. Im ersten Beitrag arbeitet Jonas Hagedorn drei grundlegende Konzeptwechsel in der Frage der Mitbestimmung bei von Nell-Breuning heraus (95-110). Schon in den 1950er-Jahren wechselt er vom Gedanken der Mitbestimmung durch Miteigentum zu einem Konzept, das von der Eigenwertigkeit des Faktors Arbeit ausgeht und um eine "hinkende Parität" zwischen Kapital und Arbeit ringt. Daraus entwickelt von Nell-Breuning in den 1960er-Jahren das Konzept der "paritätischen Mitbestimmung" im Rahmen eines dreigliedrigen Unternehmensmodells. Schließlich kommt von Nell-Breuning schon Ende der 1960er-Jahre zu dem Schluss, dass Unternehmen eine Verfassung benötigen und darin die Mitbestimmung rechtsformunabhängig zu verankern sei. Der Rolle und Bedeutung einer paritätisch verfassten Unternehmensverfassung im Denken von Nell-Breunings ist der zweite, von Friedhelm Hengsbach verfasste Artikel gewidmet (111-128). Seine Rekonstruktion der Kämpfe um die Mitbestimmung kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass schon seit den 1980er-Jahren aus vielerlei Gründen sowohl in der gesellschaftlichen Debatte als auch bei den Gewerkschaften das Interesse an der paritätischen Mitbestimmung verblasste.
Die vierte Einheit ist mit "Arbeit und gerechter Lohn" überschrieben. Dietmar Süß hebt als zentralen Impuls von Nell-Breunings das Eintreten für die Würde und Subjektstellung der Arbeiter im kapitalistischen Produktionsprozess hervor (129-144). Um keine Leerformel zu bleiben, müssten diese ihren Ausdruck in einem gerechten Lohn finden. In der Auseinandersetzung um Lohn und Leistung könne nicht auf die Leitidee eines gerechten Lohns verzichtet werden. Ilona Ostner hebt in ihrem Beitrag hervor, dass von Nell-Breuning stets einen weiten Arbeitsbegriff vertreten habe, der die Relationalität von Familien- und Erwerbsarbeit betonte (145-160). Ihre Kritik richtet sich im Anschluss an von Nell-Breuning auf den egalitaristischen Feminismus und eine kindzentrierte und investive Sozialpolitik à la Esping-Andersen, die je auf ihre Weise zur Entwertung der Familienarbeit beitrügen. Das Tarifvertragssystem als fünftes thematisches Stichwort wird von Arnd Küppers ganz in den Rahmen der Partnerschaftsidee in den Arbeitsbeziehungen eingeordnet, wobei er von Nell-Breunings lebenslang beibehaltene Distanz zur ideologischen Formel der Sozialen Marktwirtschaft unterbelichtet lässt (161-178). Wolfgang Schröder sucht die Impulse von Nell-Breunings weiterzudenken, indem er die veränderten Bedingungen gewerkschaftlicher Tarifpolitik heute differenziert analysiert (179-194).
Im Themenblock 6 verweisen Christiane Kuller und Franz-Xaver Kaufmann gemeinsam auf die doppelte Leistung von Nell-Breunings, nämliche mit der Formel von der Drei-Generationen-Solidarität der Rentenreform von 1957 legitimatorisch zum Durchbruch verholfen zu haben, gleichzeitig aber deren demografischen Geburtsfehler in Gestalt einer fehlenden Kinderkasse nachhaltig kritisiert zu haben (195-224). Gleichzeitig schlägt Franz-Xaver Kaufmann vor, die Problematik in eine humanvermögenstheoretische Perspektive bzw. eine Politik der Nachwuchssicherung einzurücken.
Lässt sich bei von Nell-Breuning eine Theorie der Sozialpolitik rekonstruieren? Unter diesem Stichwort verweist Winfried Süß auf die unterschiedlichen Zugänge und die signifikanten Wandlungen des sozialpolitischen Denkstils von Nell-Breunings (225-240). Sein an konkreten Problemlösungen interessierter Pragmatismus und seine nie ganz aufgegebene Bindung an ein neuscholastisches Ordnungsmodell haben seinen theoretischen Ambitionen Grenzen gesetzt. Auch Matthias Möhring-Hesse kommt in dieser Frage zu einer ambivalenten Antwort (241-261). Einerseits hebt er mit guten Argumenten die Aktualität des sozialpolitischen Solidarismus à la von Nell-Breuning hervor. Andererseits warnt er vor dem Paternalismus und dem Mangel an demokratischer Fundierung in von Nell-Breunings sozialpolitischem Denken.
Wer sich einen Einblick in die "religiöse Tiefengrammatik des deutschen Wohlfahrtsstaats" [3] verschaffen will, bekommt in diesem Band einen differenzierten, höchst fachkundigen Zugang. Mit kritischer Sympathie wird das sozialpolitische Denken von Nell-Breunings im Kontext der Dynamik des deutschen Wohlfahrtsstaats rekonstruiert. Beides, das schnelle Veralten vieler seiner Vorstellungen, aber auch die bleibenden Impulse für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Zukunft des deutschen Wohlfahrtsstaats erfahren eine angemessene Würdigung.
Anmerkungen:
[1] Oswald von Nell-Breuning: Kapitalismus und gerechter Lohn, Freiburg i. Br. 1960, 57.
[2] Paul Jostock: Das Sozialprodukt und seine Verteilung, Paderborn 1955, 38.
[3] Franz-Xaver Kaufmann: Sozialstaat als Kultur. Soziologische Analysen II, Wiesbaden 2015, 36; Karl Gabriel / Hans-Richard Reuter: Auswertung. Die religiöse Tiefengrammatik des deutschen Wohlfahrtsstaats. Begriffs- und diskursgeschichtliche Befunde, in: Dies. (Hgg.): Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland. Konfessionen - Semantiken - Diskurse, Tübingen 2017 [im Erscheinen].
Karl Gabriel