Rezension über:

Jennifer Raab: Frederic Church. The Art and Science of Detail, New Haven / London: Yale University Press 2015, XII + 236 S., 60 Farb-, 43 s/w-Abb., ISBN 978-0-300-20837-5, USD 65,00
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Rezension von:
Ralf Michael Fischer
Kunsthistorisches Institut, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Henning Engelke
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Michael Fischer: Rezension von: Jennifer Raab: Frederic Church. The Art and Science of Detail, New Haven / London: Yale University Press 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/10/28514.html


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Jennifer Raab: Frederic Church

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Der Maler Frederic Edwin Church (1826-1900) verkörpert wohl am prominentesten die zweite Generation der sogenannten Hudson River School, die mit ihren romantischen Landschaftsbildern zwischen 1825 und 1875 die US-amerikanische Kunstszene dominierte. Er sorgte vor allem mit spektakulären Landschaftspanoramen für Furore, die er mit aufsehenerregenden 'Ein-Bild-Ausstellungen' zu vermarkten wusste. Neben Nordamerika-Ansichten vermochten insbesondere Churchs Motive aus Südamerika und der Arktis zu faszinieren, aber auch zu polarisieren. Anlass für Kontroversen bot seine wissenschaftlich fundierte, fast schon obsessive Vorliebe für einen leinwandübergreifenden Detailrealismus, dessen schiere Fülle den Blick irritierend zu zerstreuen droht und selbst der Erkundung mit dem Feldstecher standhält. Zahlreiche Zeitgenossen reagierten mit Ratlosigkeit, denn sie vermissten jene Ausgewogenheit zwischen "precision and generality, detail and effect" (1), welche zugleich mimetische Erwartungen befriedigen und die sinnerfüllte Lesbarkeit von Bildern garantieren sollte. Dieser ästhetischen Eigenwilligkeit spürt Jennifer Raab in ihrer Monografie über Church mit dem Untertitel The Art and Science of Detail nach.

Anhand von sechs Gemälden aus der Zeit zwischen 1855 und 1874 vollzieht sie nach, wie der Künstler seine Ästhetik des Details entwickelte und umsetzte; ein abschließendes Kapitel rundet die Untersuchung im Hinblick auf Churchs von 1870 bis 1891 errichteten Landsitz Olana am Hudson River ab. Der rote Faden in Raabs Ausführungen ist die Diagnose einer Verschiebung in dessen Werk ab 1859, welche eine "culture of detail" repräsentiere, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts generell Bahn breche (vgl. 13): "Church's paintings visualize and historicize a fundamental shift in representation, one that is part of a broader epistemological transition from knowledge to information during this period. While the term 'knowledge' implied the pursuit of a unifying structure in the nineteenth century, 'information' [...] made no such promises. A system of representation based on the containment of details became marked instead by discontinuity and difference" (2).

Im ikonischen "Niagara" (1857) dominiere demzufolge noch eine auf Einheit abzielende, hierarchische Bildordnung, die im Kontext zunehmender Spannungen zwischen den nördlichen und südlichen Bundesstaaten als Hoffnungsbekundung auf den Erhalt der Union zu verstehen sei (vgl. v.a. 30-33). Mit einer wissenschaftlichen Akzentsetzung gelte das gleichfalls für The Andes of Ecuador (1855), dessen atmosphärische Lichtstimmung die Details noch zusammenbinde. Darin manifestiere sich auch das von einem einheitsstiftenden Prinzip ausgehende Naturverständnis des von Church bewunderten Alexander von Humboldt (vgl. 45-50).

Ein Umschlagpunkt sei hingegen mit dem Programmbild The Heart of the Andes (1859) erreicht. Nicht zuletzt aufgrund seiner exponierten Präsentation auf dem Metropolitan Sanitary Fair 1864 in New York City, bekrönt von den Porträts der ersten drei US-Präsidenten, sei es herkömmlichen Deutungen zufolge als visuelles Postulat der Zugehörigkeit der Konföderierten zu den Vereinigten Staaten und zugleich als Ausweitung der Manifest-Destiny-Doktrin auf Südamerika interpretierbar (vgl. 78-82). Diese nationalistische Lesart sei, so Raabs berechtigter Einwand, in erster Linie ein Resultat des Präsentationsrahmens und werde durch die Ästhetik nicht gedeckt. Ein vergleichbarer Konflikt ergebe sich mit den Intentionen Churchs, auch hier Humboldts Ideen zu visualisieren, da das All-Over kontingenter Details viel eher mit Charles Darwins Evolutionstheorie korrespondiere: Der Effekt sei "not a cosmos that could be definitely mapped and known, but a system constantly in flux" (54). Schützenhilfe holt sich die Autorin bei zeitgenössischen Kritikerstimmen. So kann sie unter anderem Mark Twain zu ihren Gewährsleuten zählen, der sich explizit zur Interpretationsresistenz von Heart of the Andes geäußert hat, weil die überbordende Detailfülle keine widerspruchsfreie Deutung gestatte (vgl. 66-67). Die Beharrungskraft von Churchs reifer Bildästhetik gegenüber Sinnstiftungsversuchen problematisiert Raab anschließend ausführlich an The Icebergs (1861), Vale of St. Thomas, Jamaica (1867) und El Khasné, Petra (1874). Dergestalt verdeutlicht sie zumindest implizit - passend zum Thema der Einzigartigkeit von Details -, dass die Werke keiner pauschalen Betrachtung unterworfen werden dürfen.

Die abschließende Diskussion von Churchs Landsitz Olana ist eine konsequente Erweiterung der Bildanalysen in die dritte Dimension. Raab vollzieht nach, wie der Maler den dortigen Landschaftsgarten nach den Maßgaben des Pittoresken gestalten ließ. Auf diese Weise setzte er Besucher und Besucherinnen durch einen "elusive character of montage" (171) einer Vielfalt permanenter Überraschungen aus, um deren Aufmerksamkeit für die Details ihrer Umgebung zu schärfen. Mit dieser Volte gelingt der Verfasserin eine elegante Überleitung zum Epilog, der eine Brücke ins 20. Jahrhundert schlägt und die hohe Relevanz von Church für Künstler herausstellt, die man nicht mit ihm assoziieren würde - darunter Dan Flavin und Claes Oldenburg (vgl. 185-190).

Jennifer Raab betritt mit ihrer umsichtigen und differenzierten Studie in der Tat Neuland. Nach den bahnbrechenden Forschungsarbeiten zur nationalen Identitätsstiftung in der nordamerikanischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts und bei Church, etwa von Franklin Kelly und Angela Miller, unterzieht sie bisherige Deutungsansätze durch eine wichtige Akzentverschiebung einer kritischen Würdigung. [1] Auf der Basis präziser Bildanalysen lenkt sie das Augenmerk auf die bislang vernachlässigte Brisanz von Churchs Ästhetik, um die widerspruchsfreie Vereinbarkeit mit bisherigen biografischen, politischen und ideologiekritischen Deutungsansätzen zu hinterfragen und stattdessen die Sperrigkeit visueller Aspekte nachzuweisen. Sympathisch an ihrem methodenkritischen modus operandi ist, dass Raab auf konstruktive Weise die Grundlagen mitreflektiert, die solche Interpretationen hervorgebracht und von Churchs Detailästhetik abgelenkt haben. Sie setzt sich auch mit den Grenzen ihrer eigenen Arbeit auseinander, indem sie zugesteht, dass sie eine absichtliche semantische Destabilisierung durch Church nicht durch Textdokumente beweisen kann (vgl. 17-18). Die überzeugende Einbettung ihrer erhellenden Bildbetrachtungen in historische Kontexte und Diskurse gleicht dieses vermeintliche Manko jedoch aus.

Zu fragen bleibt dennoch, ob Raabs Unterstellung einer allgemeinen "culture of detail" nicht zu hoch gegriffen ist. Obwohl sie auf zeitgenössische Entwicklungen in der Literatur, Wissenschaft und den visuellen Kulturen eingeht, konzentriert sie sich dabei zu sehr auf den Maler. Auch ihr exemplarisches Vorgehen hinterlässt Klärungsbedarf: Eine Sondierung von Churchs Frühwerk vor 1854, seiner zahlreichen Landschaftsskizzen oder seiner weniger bekannten Gemälde wäre sinnvoll, um die Entwicklung und Erscheinungsformen seiner Detailästhetik exakter mit Konturen zu versehen. [2] Unklar bleibt auch, wie repräsentativ die besprochenen Gemälde für das Gesamtwerk sind, also ob und inwiefern sich der narrations- und ikonografiezersetzende Effekt auch auf weniger ambitionierten Leinwänden einstellt.

Trotz dieser geringfügigen Einwände ist Jennifer Raab mit ihren Ausführungen über die Ästhetik des Details bei Frederic Edwin Church ein wichtiger Forschungsbeitrag gelungen, der nicht nur für Spezialisten der US-Kunst des 19. Jahrhunderts anregend ist. Gerade die historisch genau begründete und reflektierte Diskussion ästhetischer Eigenheiten und Bildordnungen kann zum Beispiel auch für bildwissenschaftliche Debatten nutzbringend sein. Unbedingter Erwähnung bedarf zum Schluss auch die reiche und wohlüberlegte Bebilderung mit hochwertigen Reproduktionen. Darunter sind konsequenterweise zahlreiche Detailaufnahmen, welche die Argumentation der Autorin höchst anschaulich flankieren und Neugier darauf wecken, Churchs Werke im Original neu oder erneut zu entdecken.


Anmerkungen:

[1] Vgl. z.B. Franklin Kelly: Frederic Edwin Church and the National Landscape, Washington, D. C. / London 1988; Angela Miller: The Empire of the Eye. Landscape Representation and American Cultural Politics, 1825-1875, Ithaca, NY / London 1993.

[2] Zu Churchs Ölskizzen vgl. Andrew Wilton et al.: Frederic Church and the Landscape Oil Sketch, London 2013.

Ralf Michael Fischer