Gisela Schäffer: Der unschuldige Blick. Leni Riefenstahls Nuba-Fotografien (= Aachener Bibliothek; Bd. 7), Berlin: Deutscher Kunstverlag 2016, 448 S., 62 Farb, 221 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-07367-8, EUR 68,00
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Die Dissertationsschrift "Der unschuldige Blick" von Gisela Schäffer befasst sich mit den sogenannten Nuba-Fotografien der Filmregisseurin und Fotografin Leni Riefenstahl (1902-2003), die im Zuge mehrerer Afrika-Expeditionen entstanden sind und unter den Titeln "Die Nuba - Menschen wie von einem anderen Stern" (1973) und "Die Nuba von Kau" (1976) als Fotobände publiziert wurden. Riefenstahl sah sich im Hinblick auf ihre Nuba-Fotografien und ihrer Fortsetzung nationalsozialistischer Verherrlichung von Körperkraft und Schönheit umfassender Kritik ausgesetzt, unter anderem von der amerikanischen Schriftstellerin und Fototheoretikerin Susan Sontag (9). Trotzdem erfuhren die Fotografien durch Publikationen in zahlreichen Magazinen in Europa und den USA sowie durch Neuauflagen der Fotobände massenhafte Verbreitung und verhalfen der durch ihre Dienste für die Nationalsozialisten heftig kritisierten Künstlerin zur sogenannten "Riefenstahl-Renaissance" (7).
Seit ihrem Erscheinen wurden die Nuba-Fotografien in der interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Forschung eingehend besprochen. Eine umfassende Untersuchung im Kontext einer kultur- und bildwissenschaftlichen Kunstgeschichte stellte jedoch ein Desiderat dar. Der auf der Foucaultschen "Werkzeugkiste" (16) basierenden diskurstheoretischen und diskurskritischen Analyse nähert sich die Autorin methodologisch und theoretisch Fragestellungen hinsichtlich Bildtraditionen und Bilddiskursen unter Berücksichtigung kolonial geprägter Macht-Wissens-Konstellationen. Weiterhin werden unter theoretischer Bezugnahme, unter anderem auf Gayatri Spivak, Strategien des "Othering" im kolonialen und postkolonialen Kontext analysiert und Rückgriffe der Fotografin auf nationalsozialistische Körperpolitiken untersucht. Darüber hinaus werden die Fotografien innerhalb wissenschaftlicher Diskurse wie etwa "Ikonizität und Indexikalität", "Blickregime - Evidenzerzeugung - Fetischwert" oder "Heterotopien" diskutiert.
Das erste Kapitel untersucht die beiden Nuba-Bildbände im Hinblick auf deren Bild-Text-Narration. Die enge Bezugnahme von Bild und Text zeigt sich vor allem im Rückgriff auf gängige Stereotype wie etwa "Körperschönheit" oder das "echte Afrika". Weiterhin verweist die Autorin auf die Selbstautorisierung Riefenstahls als Insiderin durch die von dieser verwendeten ethnografischen Wissenschaftsrhetorik. Während Gisela Schäffer eine motivische Anlehnung Riefenstahls an die dokumentarischen Nuba-Aufnahmen des Magnum Fotografen George Rodgers aus dem Jahr 1949 diskutiert, stellt sie weiterhin den Anspruch der Fotografin auf Ästhetisierung des Bildgegenstandes unter Rückgriff auf die avantgardistische Bildsprache der Fotografie der Weimarer Republik fest. Im Zuge ihrer Filmaufnahmen im Dienste der Nationalsozialisten und unter Berücksichtigung von Dramaturgie und Aufnahmetechnik wurde dieses stilistische Repertoire von der Fotografin, unter anderem im Hinblick auf die Inszenierung des männlichen Körpers, übernommen und angepasst. Diese Inszenierungspraxis und Ästhetisierung im Kontext nationalsozialistischer Körperpolitiken überträgt sie auch auf die Nuba-Fotografien.
Methodologisch und theoretisch dem Foucaultschen Konzept des Wissensarchivs folgend, werden die Nuba-Fotografien von Schäffer im Zusammenhang von kolonialen Machtdispositiven und Körperbildern analysiert. Beispielhaft ist hier eine Serie von Maskenbildnissen der Nuba von Kau in denen die Autorin einerseits koloniale und repressive Aufnahmemuster der Kriminalistik und Anthropologie erkennt und andererseits einen intendierten Rückgriff Riefenstahls auf kunsthistorische Bildtraditionen wie etwa primitivistische Topoi der Klassischen Moderne feststellt. Unter dem Titel "Koloniale Bildwelten" werden einige Nuba-Fotografien im kulturhistorischen Kontext sowie innerhalb der Bildkultur des deutschen Kolonialismus, wie sie etwa die Zeitschrift "Kolonie und Heimat" vermittelt hat, diskutiert. Dabei sieht Schäffer zum Beispiel in der mit Aggressivität und Sexualität konnotierten Aufnahme der "Nubafrau Jemila" von 1974 eine Anlehnung an das koloniale Motiv der "Schwarzen Amazone" sowie die "rassenbiologische Ästhetik" des weiblichen Akts im Nationalsozialismus. Die Nubafrau wird hier als "sexuiertes Emblem des archaischen, grausamen Afrika" (182) vorgeführt und damit die zivilisatorische Überlegenheit sowohl der Fotografin als auch der Betrachter und Betrachterinnen vermittelt.
Die Rezeption der Riefenstahlschen Nuba-Bilder ist Thema der letzten zwei Kapitel. Das dritte Kapitel geht der Auseinandersetzung mit den Fotografien in der Kunst nach. So dekonstruiert etwa der senegalesische Bildhauer Ousmane Sow mit seiner in den 80er-Jahren entstandenen Arbeit westliche Stereotype des schwarzen Körpers und verortet die Aufnahmen Riefenstahls im rassistischen Bilddiskurs. Das Erscheinen der Nuba-Bildbände vor dem Hintergrund der Geschichte der Dekolonisierung Afrikas sowie die Rezeption dieses Prozesses in der deutschen Illustriertenpresse in den Jahren 1960/61 und 1970 bildet den Schwerpunkt des vierten Kapitels. In der den Bildbänden vorausgehenden Publikation einer 16-seitigen Bildserie in der Stern-Ausgabe 51/1969 sieht die Autorin einen bedeutenden Beitrag zum neokolonialen Exotismus und damit "zur Remythisierung des dekolonisierten Afrikas" (347) von Seiten der Bildmedien seit den späten 50er-Jahren.
Gisela Schäffer wertet das Riefenstahlsche Nuba-Projekt als Intention der Fotografin, sich von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren. Dabei verortet sie die Nuba-Aufnahmen an der Schnittstelle von Bildreportage, ethnografischer Dokumentation und Kunstfotografie und analysiert die von der Künstlerin vorgenommenen Referenzierungen, wie etwa die Anlehnung an George Rodgers humanistische Nuba-Fotografien oder die ethnografische Rhetorik, die den wissenschaftlichen Anspruch des Projekts suggerieren sollte. Weiterhin wurde mit dem Bezug zum Primitivismus der Versuch von Seiten der Fotografin unternommen, eine Brücke zur Klassischen Moderne zu schlagen, um sich innerhalb dieses künstlerischen Diskurses zu verorten. Dabei bediente sich Riefenstahl einer Inszenierungspraxis, die auf Ästhetisierung, Emotionalisierung und heroische Ikonisierung abzielte und damit trotz aller Abgrenzungsversuche auf ihre Filmprojekte im Nationalsozialismus und damit einhergehende Körperpolitiken rekurriert. Der Erfolg der Nuba-Fotografien ist, so die Autorin, nicht nur der gesteigerten Ästhetik der Fotografien, sondern auch dem historisch-politischen Zeitgeschehen der Dekolonisierung Afrikas und damit einhergehenden revisionistischen Diskursen geschuldet, wie sie etwa in den Bildmedien geführt wurden. Im Sinne eines "kompensatorischen Effekts" (19) bestätigten die Nuba-Fotografien dabei rassifizierende und romantisierende Alteritätskonzepte und Stereotypisierungen, gegen die sich der Dekolonisierungsprozess zur Wehr setzte. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Fetischisierung des schwarzen fremden Körpers und dessen visueller Vorführung als "Genussware" des weißen Blicks (401).
Im Kontext einer kultur- und bildwissenschaftlichen Kunstgeschichte und unter Berücksichtigung von Methoden und Theorien der Postcolonial Studies beleuchtet Gisela Schäffer die Riefenstahlschen Nuba-Aufnahmen aus vielfältigen Perspektiven. Sie eröffnet damit neue Diskursebenen, innerhalb derer die Fotografien verortet werden können. Teilweise geht die Darstellung kulturhistorischer Hintergründe jedoch zu weit weg vom eigentlichen Gegenstand, was zu Lasten eines konkreten Rückbezugs der Diskurse auf die Nuba-Fotografien geht. Ob der äußerst sparsame Umgang mit Bildmaterial auf Gründe des Copyrights zurückzuführen ist, bleibt ungeklärt. Offen bleibt auch die Wahl des provokanten Titels. Die Leser und Leserinnen können jedoch vermuten, dass dieser sich auf die "Unschuldsbehauptung" (7) Riefenstahls, die eingangs diskutiert wird, bezieht. Mit ihrer Dissertationsschrift ist es Gisela Schäffer insgesamt gelungen, eine bedeutende Forschungslücke zu schließen und eine umfassende Grundlage zur Weiterführung des Diskurses um Riefenstahls Werk innerhalb der Kunstgeschichte zu schaffen.
Anna Sophia Messner