Rezension über:

Rüdiger Bergien: Im »Generalstab der Partei«. Organisationskultur und Herrschaftspraxis in der SED-Zentrale (1946-1989) (= Kommunismus und Gesellschaft; Bd. 5), Berlin: Ch. Links Verlag 2017, 582 S., 8 s/w Abb., ISBN 978-3-86153-932-2, EUR 50,00
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Rezension von:
Christian Rau
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Christian Rau: Rezension von: Rüdiger Bergien: Im »Generalstab der Partei«. Organisationskultur und Herrschaftspraxis in der SED-Zentrale (1946-1989), Berlin: Ch. Links Verlag 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 1 [15.01.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/01/30801.html


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Rüdiger Bergien: Im »Generalstab der Partei«

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Erst spät hat die DDR-Forschung die SED als Forschungsgegenstand entdeckt. Um die Jahrtausendwende erschienen erste umfassendere Studien zum Innenleben der Partei (zunächst vor allem aus der Feder von Soziologen), in letzter Zeit aber auch einige Regionalstudien, die sich aus historischer Perspektive den Handlungsspielräumen und Sinnwelten von SED-Funktionären widmeten. Rüdiger Bergiens Studie zur Institutionenkultur des Zentralkomitees (ZK) der SED ist in diesen Forschungskontext einzuordnen. Sie ist ein Ergebnis des von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Stipendienprogramms "SED-Geschichte zwischen Mauerbau und Mauerfall" (2010-2013). Innovativ ist diese Studie vor allem deshalb, weil Bergien gerade keine politische Geschichte des "Generalstabes" der Staatspartei geschrieben hat, sondern sich dem Innenleben der Organisation ZK aus sozial- und kulturgeschichtlicher Sicht nähert. Bergien ist an den Menschen interessiert, die die Organisationskultur des ZK prägten, deren sozialen Beziehungen, Interessen und Sinnwelten. Damit wählt er eine längst überfällige Perspektive auf den zentralen Parteiapparat.

Die Untersuchung erstreckt sich auf acht Kapitel, von denen fünf chronologisch angelegt sind und jeweils die Themengebiete Organisation, Personal sowie Herrschaftspraxis adressieren. Unterbrochen wird diese Struktur durch drei Längsschnitte, welche die kommunikativen Praktiken, das Verhältnis des ZK zur Staatssicherheit und die materielle Dimension der Loyalität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ZK thematisieren.

In den chronologischen Abschnitten schildert Bergien die Organisationsentwicklung des ZK als einen Prozess, der weniger durch einen Masterplan gekennzeichnet war, sondern vielmehr vom Rückgriff auf KPD-Strukturen aus der Weimarer Republik, von permanenten sozialen bzw. generationellen Konflikten (besonders in den 1950er und 1980er Jahren), Spannungen zu den Zentralverwaltungen/Ministerien sowie anfangs zur sowjetischen Militärverwaltung und einer ständigen Pendelbewegung zwischen "antibürokratischem" Selbstverständnis und dem Bedürfnis nach klaren Strukturen als Voraussetzung für Organisationsmacht. Eine wachsende Autorität des ZK-Apparates lässt sich Bergien zufolge erst seit Ende der 1950er Jahre feststellen. Auf die dennoch nie aufgelösten Spannungen hätten die Akteure im ZK mit der Ausbildung "lokaler Rationalitäten" reagiert, d.h. die verschiedenen ZK-Abteilungen hätten sich an die jeweils parallelen staatlichen, aber auch gesellschaftlichen Strukturen angepasst, was wiederum zulasten einer "Corporate Identity" ging. Beschleunigt hätten diesen Prozess die mit dem Neuen Ökonomischen System seit 1963 verbundenen Strukturreformen im Parteiapparat. In der Ära Honecker habe dieser Prozess sogar zur Einhegung der Konflikte zwischen ZK-Abteilungen und Ministerien geführt, ja gar in eine Art "Lobbyarbeit" der ZK-Abteilungen für ihre Politikbereiche gemündet. Als das "absolute Primat der Parteiherrschaft" im Herbst 1989 plötzlich wegbrach, habe sich das Dilemma der funktionalen Differenzierung des ZK offenbart - der "Generalstab" sei am Ende "nicht mehr als eine überflüssige Parallelstruktur" gewesen (529).

Im Längsschnittkapitel IV widmet sich Bergien der Kommunikationskultur im ZK. Dass mündliche Kommunikationskanäle eine wichtige Bedeutung innerhalb des Staats- und Parteiapparates der DDR hatten, wird heute sicherlich nicht mehr infrage gestellt. Bergien aber sieht diese als "die eigentlich relevanten" (172), und nicht mehr wie die ältere Forschung als Ergänzung zur schriftlichen Kommunikation an. Die hinlänglich bekannte Formalisierung des Berichtswesens in den 1960er Jahren wird in dieser Studie selbst als Ergebnis eines Rationalisierungsprozesses begriffen. Die daraus resultierenden Informationsdefizite wurden auf verschiedene Weise zu kompensieren versucht, wobei Bergien insbesondere die Bedeutung des Telefons hervorhebt. Ebenso vielschichtig wie die Kommunikationskultur gestaltete sich das Verhältnis des ZK zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das in Kapitel VI beschrieben wird. Es reichte von der geradezu paranoiden, gleichzeitig aber auch innerhalb des MfS für Konflikte sorgenden Abschirmung des ZK-Gebäudes durch MfS-Sicherheitspersonal, über die Zustimmung der ZK-Sicherheitsabteilung bei der Ernennung und Beförderung von MfS-Kadern, die Kooperation im nachrichtendienstlichen Bereich sowie bei der Einschätzung von ZK- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bis hin zu eigentlich illegalen inoffiziellen Kontakten des MfS im ZK. Vor allem unter den technischen Bediensteten konnte die Stasi auf ehemalige Inoffizielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurückgreifen, so dass die Überwachung des ZK durch das MfS eine größere Dimension annahm als bislang bekannt. Konkrete Untersuchungen gegen ranghohe ZK-Funktionäre mussten jedoch von Erich Mielke genehmigt werden; allerdings stieß das MfS hier auch an deutliche Grenzen seines Einflusses. Das galt vor allem für korrupte Funktionäre, denen sich Bergien in Kapitel VIII widmet. Dabei zeigt er, dass Korruption - entgegen älterer skandalisierender Darstellungen - selbst Teil von institutionalisierten Klientelbeziehungen war und eher eine systemstabilisierende, denn -gefährdende Funktion hatte, indem sich etwa durch Tauschgeschäfte die Beziehungen zwischen Staat und Partei festigten. Zudem sei Korruption eine Begleiterscheinung des auf persönlicher Loyalität und materiellen Anreizen fußenden Patronagesystems Erich Honeckers gewesen.

In der Summe hat Rüdiger Bergien eine überzeugende Studie vorgelegt, die die häufig vorausgesetzte Übermacht des ZK der SED kritisch hinterfragt. Die Arbeit gewährt viele neue Einsichten in den Arkanbereich der SED-Machtzentrale, zeigt soziale Beziehungen, Dissonanzen, Spannungsfelder und die Heterogenität des Apparates auf. An manchen Stellen hätte man sich jedoch mehr Differenzierung bzw. Tiefenschärfe und einen kritischeren Umgang mit dem Quellenmaterial (insbesondere mit der Überlieferung des MfS) gewünscht. So steht die Assimilationsthese zum Teil auf unsicherem empirischem Fundament. Bergiens These, das ZK habe sich zunehmend der institutionellen Umwelt, d.h. vor allem den staatlichen Strukturen, angepasst, wirft die Frage auf, ob dieser Prozess tatsächlich so einseitig und linear verlief wie hier suggeriert, oder ob nicht auch die Ministerien Anpassungsleistungen zu erbringen hatten. Diese Dimension bleibt in der Studie aber unberücksichtigt. Auch dass die Ministerien anfangs mehr Autorität besessen hätten, ist mit einem Verweis auf das dort formal höhere Qualifikationsniveau und die größere Planstellenzahl noch nicht hinlänglich belegt. Was in der Studie zudem generell etwas untergeht, ist die Situationsgebundenheit und damit die Fluidität des Machtverhältnisses zwischen Staats- und Parteiapparat.

Das innovative Potenzial dieser Studie lädt ein, an den genannten Stellen weiter zu forschen. Rüdiger Bergien ergänzt bisherige Forschungen zum ZK der SED durch einen neuen Blick auf den "Generalstab" der Partei und belegt damit ein weiteres Mal, dass die Geschichte der DDR noch lange nicht "ausgeforscht" ist.

Christian Rau