Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hgg.): Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren, Frankfurt/M.: Campus 2016, 315 S., ISBN 978-3-593-50550-3, EUR 39,95
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Mittels der Sprache wurde seit dem Beginn der 1970er-Jahre eine neue Welt erschaffen. Individuen mussten sich in einer "neuen Wirklichkeit" zurechtfinden, einer "Wirklichkeit", deren Gerüst auf der Sprache der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften errichtet war. Diese These spannt sich wie ein Bogen über den von Ariane Leendertz und Wencke Meteling herausgegebenen Sammelband. Dies ist in der Tat eine große und weitreichende These.
Die Herausgeberinnen beschreiben die 1970er- und 1980er-Jahre als "epistemische Wendezeit" (13) und folgen dabei der Forschung zur Geschichte der Gegenwart, die in Deutschland unter dem Label "nach dem Boom" gefasst wird. Geradezu von "Bezeichnungsrevolutionen" (23) seien diese Dekaden geprägt, die Semantik mithin Brüchen und schnellen Umschwüngen ausgesetzt gewesen, die Leendertz und Meteling zumindest die Frage nach einer neuen Sattelzeit stellen lassen. Als Indikatoren des epistemischen Wandels identifizieren sie erstens die (mittlerweile vielfach beschriebene) Rekonfiguration von Zeithorizonten, zweitens eine veränderte Sicht auf Problemlagen und Steuerungsmöglichkeiten und drittens eine Universalisierungstendenz, die sich gerade durch ihr Individualisierungsangebot auszeichnete. Erst am Ende der 1980er-Jahre sei dieser Krisendiskurs endgültig überwunden worden. "[N]eue Konzepte" (26) wie Individualität, Subjektivität, Identität oder Körperlichkeit öffneten neue Horizonte für ein der Zukunft zugewandtes Denken.
Dabei setzte sich die mittels Sprache hergestellte "neue Wirklichkeit" durch, so die Herausgeberinnen, wenn "Bezeichnungsinnovationen" (28) in mehreren Kontexten virulent wurden, wenn sie also in verschiedenen Wissenschaften wie in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus Kraft entfalteten und zudem begriffliche Flexibilität besaßen. Obwohl sich der Band auf die Analyse von Elitendiskursen konzentriert, obwohl also Intellektuelle, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Verbandsfunktionäre und Politiker als Akteure der "Bezeichnungsrevolution" vorgestellt werden, geht der erklärende Anspruch des Bandes weit über seinen eigentlichen Untersuchungsgegenstand hinaus. Immer wieder wird behauptet, dass sich sozialwissenschaftliche Konzepte zu "allumfassende[n] Dispositiven und universale[n] Realitätsmodell[en]" (28) entwickelt hätten, die bis hinein in die Alltagspraktiken spürbar gewesen seien - nur belegt werden diese Annahmen an keiner Stelle. Dafür hätte es anderer Quellen und eines gewendeten Blickes bedurft.
Ähnlich hoch legen die Herausgeberinnen die methodische Messlatte. Sie verorten den Band in der Historischen Semantik, interessieren sich für die "sprachlich hergestellten Rahmen des Machbaren" (19), für semantische Verschiebungen und begrifflichen Wandel. Dabei lehnen sie einen "radikal diskursanalytischen Ansatz" zwar ab, erkennen die "Macht der Diskurse" indes dennoch an (26). In welcher Verbindung historisch-semantische Perspektive und Diskursanalyse stehen, bleibt mithin offen. "Begriffe, Bilder, Metaphern, Topoi und Argumentationsweisen" (13) gibt der Band vor zu untersuchen und als Bausteine der vorausgesetzten "neuen Wirklichkeit" zu ergründen.
Nur sehr wenige Autoren lassen sich allerdings auf diese Ansätze ein, die Mehrheit geht recht nonchalant mit dem methodischen Instrumentarium um. Dies mindert nicht die Qualität der einzelnen Beiträge, nur für den Gesamtzusammenhang des Bandes ist diese methodische Unbekümmertheit misslich. Dass sie sich zuvorderst an der Terminologie zeigt, ist bei einem Band, der sich mit Semantik beschäftigt, geradezu ein Offenbarungseid. Geht es um Begriffe, um Konzepte, um Ideen, um Denkfiguren, um Dispositive? Wie stehen diese Ansätze im Verhältnis zueinander und vor allem auch zu der neuen Sprache, zu deren Untersuchung sie beitragen möchten? Alexander Friedrich spricht beispielsweise vom "Konzept" der Vernetzung bzw. des Netzwerks, bei Friedrich Kießling geht es um "Stichworte der Gegenwartsdiagnosen" (140) und um "diskursiv verhandelte Leitvorstellungen" (141) und schließlich um "neue Großkonzepte" (149), für Dietmar J. Wetzel sind Décroissance und Degrowth "Metaphern und Bewegungen" zugleich (197), die mit dem "Schlüsselbegriff" Wachstum (189) konkurrieren, und Stephan Lessenich identifiziert eine "Wissensordnung des Alters", aus der er drei verschiedene "story lines" herauspräpariert. Martin Geyer spricht in seiner Untersuchung des Risikodiskurses von "Topoi" wie dem der "Lücke" (284) oder dem der "nicht intendierten Nebenfolgen" (300). Steffen Henne kommt ganz ohne historisch-semantische Bezüge aus, wenn er den "temporalen Umbruch" der 1980er auf der Basis einer Auswertung von Zeitbezügen und -konzepten im intellektuellen Diskurs rekonstruiert. David Kuchenbuch konstatiert zwar zunächst die Bedeutung des Begriffs der "Einen Welt" im Spannungsfeld von globalen Steuerungsutopien einerseits und individuellem Lebensveränderungsimpuls in politisch bewegungsaffinen Milieus andererseits, ohne die semantische Analyse zu vertiefen. Bei der Untersuchung des konstatierten "glokalen Moralismus" (66) hingegen verliert sich dieser Fokus und wird gegen die Betrachtung von Kartenbildern, nämlich alternativen Weltkarten, eingetauscht. Die am Schluss vorgebrachte These, dass der Bedeutungsgewinn des Visuellen aus der Enttäuschung über die ausgebliebenen Versprechen der "geschriebenen Sprache" der 1960er-Jahre (87) - sprich der linken Theorie - rühre, mag kaum überzeugen, hält man sich die Beispiele tatsächlicher Sprachmacht vor Augen, die der Sammelband vorführt.
In überzeugender und sehr plastischer Art und Weise gelingt es Wencke Meteling in ihrer differenzierten Untersuchung des Begriffs "Standort" zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren den Wert eines historisch-semantischen Ansatzes zu demonstrieren. Sie zeigt, wie das Sprechen über den "Standort" Deutschland zunächst von wirtschaftsliberalen Expertenkreisen Mitte der 1970er-Jahre strategisch eingesetzt, dann als politischer Schlüsselbegriff einer angebotsorientierten Sprache von (wirtschafts-)politischen Akteuren bereitwillig aufgegriffen wurde, um den wachstumskritischen und zukunftspessimistischen Diskursen der Linken einen optimistischen, angebotsökonomischen Zukunftshorizont entgegenzusetzen. Dieser drückte sich in einer Sprache aus, die durch ein semantisches Netz von Begriffen wie "Wettbewerb", "Flexibilisierung", "Risikobereitschaft", "Investition", "Chance" - und eben "Standort" geprägt wurde, und die sich schließlich nach 1989/90 breit durchsetzte. Ariane Leendertz konzentriert sich auf den wissenschaftlichen Diskurs, wenn sie den Begriff der "Komplexität" in der US-amerikanischen policy-Forschung der 1970er-Jahre verfolgt und verdeutlicht, wie sich Problemanalyse und Problemlösungsansätze ineinander verschränkten und so wirklichkeitskonstitutiv wurden. Dabei arbeitet sie die dialektische Bezogenheit von gesellschaftlichem Wandel und sprachlicher Konstruktion von "Wirklichkeit" heraus, die es gelohnt hätte, im Band vertieft untersucht zu werden.
Welche großen semantischen Verschiebungen hin zu einer "neuen Wirklichkeit" arbeitet der Band nun heraus? Die Herausgeberinnen betonen zum einen die semantische Wirkmächtigkeit der Kybernetik, der Systemtheorie sowie des Globalisierungsdiskurses; die Angebotsökonomie kann dem hinzugefügt werden. Zum anderen unterstreichen sie die universalisierende Tendenz der neuen Begriffe, die immer auch ganz direkt auf das einzelne Individuum zielte und dieses in Relation zu den 'großen Entwicklungen' positionierte. Das konnte einerseits zu befreiender Aktion führen, etwa im individuellen Einsatz für die "Eine Welt", andererseits zum Festzurren von Abhängigkeiten, wenn die internationale "Standortkonkurrenz" dem Arbeiter und Angestellten vermehrten Leistungsdruck, Flexibilisierungsforderungen und Lohnzurückhaltung als "alternativlos" abverlangte. Und es konnte zu einer Praxis der individuellen Absicherung führen, um den allenthalben diagnostizierten "Risiken" und Unsicherheiten beizukommen.
Solche ersten Furchen in das Terrain einer historisch-semantischen Analyse der Geschichte der Gegenwart gezogen zu haben, ist das große Verdienst des Sammelbandes. Dabei wirft er mehr Fragen auf, als er zu beantworten vermag - und dies tut er im positiven Sinne. Die große These von der sich breit durchsetzenden neuen Sprache seit den 1970er-Jahren kann er letzten Endes nicht beweisen - dafür sind die Aufsätze methodisch zu uneinheitlich, die Beispiele zu selektiv, der Fokus zu sehr auf die Sozialwissenschaften gelegt. Andere Kontexte, andere Begriffe würden zu alternativen Periodisierungen leiten. Die im Band kaum thematisierte transnationale Dimension von Sprache, die Konstitution und Wirkung internationaler Semantiken auf nationale Begriffswelten würden manche Wertungen verschieben. Vielleicht ist es noch zu früh, große Deutungen von "neuen Wirklichkeiten" und neuen Sprachen vorzubringen, "Bezeichnungsrevolutionen" zu konstatieren, wo doch semantischer Wandel in längeren Zyklen verläuft und durch eine Metaphorik des Bruchs und des Umsturzes kaum adäquat zu beschreiben ist. Doch die überzeugte Einladung von Ariane Leendertz und Wencke Meteling, die Sprache als historische Kraft ernst zu nehmen und als Gegenstand historischen Nachdenkens für die Zeitgeschichte zu konzeptualisieren, diese Einladung ist es wert angenommen zu werden. Die Sprachwelten der "Geschichte unserer Zeit" (Andreas Wirsching) zu ergründen mag dabei nicht zuletzt helfen, Distanz zu den Terminologien der Sozialwissenschaften zu gewinnen und eine genuin zeithistorische Sprache zu entwickeln.
Martina Steber