Aviva Guttmann: The Origins of International Counterterrorism. Switzerland at the Forefront of Crisis Negotiations, Multilateral Diplomacy, and Intelligence Cooperation (1969-1977) (= New Perspectives on the Cold War; Vol. 2), Leiden / Boston: Brill 2017, XII + 286 S., e-book, ISBN 978-90-04-35669-6, EUR 95,00
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Spannende neue Erkenntnisse zur Konfrontation der Schweiz mit dem Nahost-Terrorismus, aber auch zu den Anfängen des internationalen Anti-Terror-Kampfes liefert die hier zu besprechende Monografie der Historikerin Aviva Guttmann. Auf der Grundlage von Primärquellen aus dem Schweizerischen Bundesarchiv sowie aus britischen, französischen und US-amerikanischen Archiven zeichnet die Autorin die spezifische Erfahrung nach, die die neutrale Schweiz innerhalb weniger Jahre vom passiven Beobachter zum Vorreiter multilateraler Anti-Terror-Zusammenarbeit werden ließ. Die Gründe für diese aktive Rolle waren eine Reihe von Attentaten palästinensischer Gruppen gegen Schweizer Ziele 1969/70, aber auch die Entführung des Schweizer Botschafters in Brasilien, Giovanni Enrico Bucher, am 7. Dezember 1970 durch die Stadtguerilla Vanguardia Popular Revolucionaria (VPR). Diese Ereigniskette habe bewirkt, dass die Schweiz den anfänglichen Dilettantismus in Sachen Krisenmanagement überwand und im Verlauf der 1970er Jahre Kooperationen mit gleichgesinnten Staaten einging (230-236).
Eine Folge war die Einrichtung eines informellen nachrichtendienstlichen Gremiums, des sogenannten Berner Clubs. [1] Darüber hinaus setzte sich die Schweiz auf der Ebene der Vereinten Nationen und des Europarates für diplomatische Anti-Terror-Maßnahmen ein. Ein Erfolg war die 1977 beschlossene European Convention on the Suppression of Terrorism (ECST), die terroristische Gewalt als Verbrechen definierte und eine vereinte europäische Front symbolisierte. Und schließlich wurde mit der Working Group on Terrorism (WGT) in den frühen 1970er Jahren ein internes Koordinationsinstrument geschaffen, das sich mit den politischen, legalen, internationalen und sozialen Dimensionen von Terrorismus beschäftigte.
Wegen zeitlicher Überschneidungen geht Guttmann nicht auf das 2016 erschienene Buch "Schweizer Terrorjahre" des NZZ-Journalisten Marcel Gyr ein. Dieser vertritt die These, dass die Schweiz ein Stillhalteabkommen mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) geschlossen habe, um so weitere Gewalt zu verhindern. Schriftliche Belege dafür hat Gyr nicht, aber Aussagen von Zeitzeugen. [2] Im Zuge der Kontroverse meldete sich auch Guttmann zu Wort und meinte, dass sie einen solchen Geheimdeal aufgrund des historischen Kontextes für wenig wahrscheinlich halte. [3]
Besonders interessant sind Guttmanns Erkenntnisse zum bereits erwähnten Berner Club. Dieser soll seit 1969 existieren. Zu den Gründungsmitgliedern zählen neben der Schweiz auch Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Die Leiter der jeweiligen Nachrichtendienste treffen sich zweimal jährlich. Dabei werden eine Lageeinschätzung und die Festlegung von Prioritäten für die operative Arbeit vorgenommen. Seit 1971 sind auch die USA und Israel eingebunden. Außerdem wurden bis Ende der 1970er Jahre sechs weitere Länder an das chiffrierte Telex-System des Berner Clubs angeschlossen. Unter dem Decknamen "Kilowatt" diente es dazu, Informationen auszutauschen, vor allem in Sachen Terrorismus und Spionage. Guttmann erhielt exklusiven Zugang zu Schweizer Unterlagen zum Berner Club, und zwar zu den Anfängen seiner Tätigkeit in den frühen 1970er Jahren. Nur ein ganz kurzer Ausblick wird auf die 1980er Jahre gegeben. Darüber hinaus bleibt der Berner Club völlig obskur. Das Gremium existiert bis heute und hat kurz nach 2001 eine eigene Counter Terrorist Group geschaffen, die speziell den islamistischen Terrorismus im Fokus hat. [4]
Guttmann hebt unter anderem die Kooperation mit dem besonders aktiven Partner Israel hervor. Der auf strikte Geheimhaltung ausgerichtete Berner Club habe den westlichen Demokratien die Möglichkeit gegeben, bei der Terrorismusbekämpfung eng mit Israel zusammenzuarbeiten - ohne nach außen hin die Beziehungen zu den arabischen Staaten oder zur Sowjetunion aufs Spiel zu setzen, welche die Gegenseite unterstützten. Dafür profitierte man von den umfangreichen Erkenntnissen der israelischen Seite über palästinensische Terrorgruppen, etwa in Form von regelmäßigen Lageberichten.
Wie sich aus der Quellenauswertung ergibt, verfügten die Nachrichtendienste insgesamt über eine große Menge an detailreichen Informationen aus erster Hand, wenngleich es schwierig einzuschätzen ist, ob diese sich auch als zutreffend erwiesen haben. Unter anderem verweist Guttmann auf einige Mitteilungen, die Westdeutschland kurz vor der Entführung der Lufthansa-Maschine "Kiel" am 29. Oktober 1972 verschickte. Sie erbrachte innerhalb kurzer Zeit die Freilassung der drei überlebenden Terroristen des Münchner Olympia-Attentats aus deutscher Haft. Die Tatsache, dass nur wenige Geiseln an Bord waren, wurde seitdem als Anzeichen dafür ins Feld geführt, dass der Anschlag inszeniert war. [5] Wie sich aus den von Guttmann ausgewerteten Unterlagen ergibt, war unter anderem Anfang Oktober 1972 vor einer Entführung am Morgen des 30. Oktober 1972 gewarnt worden (tatsächlich fand der Anschlag, wie erwähnt, einen Tag vorher statt). Sogar die Namen der dafür eingesetzten Hijacker und das Zielland Libyen waren in der betreffenden Depesche angeführt. Offenbar, so Guttmann, sei Deutschland von dem Ereignis nicht ganz überrascht gewesen. Als generell problematisch wertet Guttmann das völlige Fehlen von parlamentarischer Aufsicht und die Tatsache, dass man pro-palästinensische Aktivisten oft pauschal als Terrorverdächtige einstufte und mit Akribie überwachte. Positiv war, dass es gelang, mehrere Terroranschläge zu verhindern.
Insgesamt handelt es sich um eine kenntnisreiche und flüssig geschriebene Studie, die vor allem im Bereich Intelligence Studies viel Neuland erschlossen hat. Es bleibt abzuwarten, ob noch weitere Staaten dem Beispiel der Schweiz folgen und der Forschung einen Teil ihrer Unterlagen zum Berner Club öffnen.
Anmerkungen:
[1] Von Aviva Guttmann sind zu diesem Thema auch folgende Publikationen erschienen: Combatting terror in Europe: Euro-Israeli counterterrorism intelligence cooperation in the Club de Berne (1971-1972), in: Intelligence and National Security 33 (2018), Nr. 2, 158-175; Secret Wires Across the Mediterranean: The Club de Berne, Euro-Israeli Counterterrorism, and Swiss 'Neutrality', in: The International History Review, 10. Juli 2017 (published online); http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/07075332.2017.1345774?journalCode=rinh20.
[2] Vgl. Marcel Gyr: Schweizer Terrorjahre. Das geheime Abkommen mit der PLO, Zürich 2016.
[3] Vgl. Marc Tribelhorn: Ein unheimlicher Verdacht, in: Neue Zürcher Zeitung, 18. Februar 2016. Eine eigens eingesetzte Arbeitsgruppe fand dafür keinen Beleg. Vgl. ihren Schlussbericht: https://www.eda.admin.ch/dam/eda/de/documents/publications/Geschichte/interdepartementale-arbeitsgruppe-1970_de.pdf. Allerdings ist mittlerweile erwiesen, dass auch die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich in unterschiedlichem Ausmaß Absprachen mit dem Sicherheitsapparat der PLO eingegangen waren. Vgl. Thomas Riegler: Ein Schweizer Stillhalteabkommen mit der PLO erscheint plausibel, in: Neue Zürcher Zeitung, 13. März 2016.
[4] Vgl. Aviva Guttmann: So spionierte die Schweiz mit Israel Araber aus, in: Tages-Anzeiger, 7. Februar 2016.
[5] Vgl. Aaron J. Klein: Die Rächer. Wie der israelische Geheimdienst die Olympia-Mörder von München jagte, München 2006, 145.
Thomas Riegler