Rezension über:

Anne Bloemacher: Raffael und Raimondi. Produktion und Intention der frühen Druckgraphik nach Raffael, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2016, 408 S., 41 Farb-, 281 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-07356-2, EUR 83,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Ralf Bormann
Städel Museum, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Bormann: Rezension von: Anne Bloemacher: Raffael und Raimondi. Produktion und Intention der frühen Druckgraphik nach Raffael, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/06/30790.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Anne Bloemacher: Raffael und Raimondi

Textgröße: A A A

Von Nelson Goodman wissen wir, dass jede qualifizierte gedankliche Anstrengung mit dem Ziel, "das Dunkle und Obskure aufzuklären", unvermeidbaren Verdruss bereitet: "Als Strafe für Misserfolg droht Konfusion, als Lohn des Erfolges winkt Banalität. Jede Lösung, ist sie erst einmal gefunden, ist bald langweilig; und es bleibt nur die Bemühung übrig, das ebenso langweilig zu machen, was noch dunkel genug ist, um uns zu fesseln." [1] Anne Bloemacher lässt sich bei ihrer Erkundung des römischen Kunstgeschehens der 1510er-Jahre nach einer Antwort auf die oft gestellte Frage nach der Natur des Arbeitsverhältnisses von Raffael und Marcantonio Raimondi von beiden Risiken nicht schrecken. Von der ersten Seite an zeigt sie sich überzeugt: Die Zusammenarbeit war denkbar eng, Raimondi genoss exklusiven Zugang zum entwerfenden Raffael und dessen Ideen, die oftmals bereits eine druckgrafische Umsetzung vorsahen, betreut durch Raffael und seine Werkstatt (7; 309). Bloemachers Dissertationsschrift ist ganz darauf angelegt, diese These "mittels eindeutiger Belege und Befunde" (309) zu erörtern. Da die raren schriftlichen Quellen das nicht hergeben (23-42), analysiert die Autorin die Druckgrafik Raimondis auf Hinweise einer Rezeption der im Entwurfsprozess entstandenen Zeichnungen sowie der Unterzeichnungen der ausgeführten Werke Raffaels. Aus diesen Vergleichen wiederum schließt Bloemacher auf die Natur der Arbeitsbeziehung beider Künstler. Bedauerlich ist, dass sich stilistische wie technische Vergleiche nicht immer an dem eigentlich opulent bebilderten Band nachvollziehen lassen, so im Fall der Abbildungen 12 und 13 (46) oder 24 und 25 (58), die dem Leser den von der Autorin angestellten Schraffenvergleich nicht erlauben. Verwirrend sind zudem die Verwechslungen einiger der Detailaufnahmen von Bartsch 18 und 20 (68f. und 182f.): Die Abbildungen 36c-d zeigen Bartsch 20 und nicht, wie angegeben 18, bei den Abbildungen 37 c-d verhält es sich vice versa.

Bloemacher führt ihre vergleichenden Analysen (77-110) unter der Prämisse aus, eine druckgrafische Verwertung einer "von Raffael als abgeschlossen erachtete[n] Invention" spreche für "die Kupferstichherstellung" durch Raimondi als ein von Raffael "organisiertes Unternehmen". Während eine druckgrafische Umsetzung von Vorlagen, die "beliebigen Stadien des Inventionsprozesses" entnommen seien, auf eine "weitgehend unorganisierte" (und daher wohl nicht von Raffael gesteuerte?) "Produktion von Kupferstichen" schließen lasse (77). Am Beispiel der Unterzeichnung der Neapler Madonna del Divino Amore und Raimondis nach Raffael gestochener Madonna mit der Palme nimmt Bloemacher deren übereinstimmende Abweichung vom ausgeführten Gemälde als einen Beleg für ihre These der engen Zusammenarbeit (89). Es wäre zu überlegen, ob der Umstand, dass ein Entwurfsgeschehen auf dem Papier zu einem Abschluss gefunden hat, zugleich die Vollendung jedweder Entwurfstätigkeit markiert. Oder ob diese an die Entwurfswerkzeuge geknüpfte Grenze, an der der Werkprozess das Papier verlässt und als Vorzeichnung auf den Malgrund gelangt, nicht eine eher akademische ist. Gegen eine solche Einhegung des Entwurfsgeschehens sprechen ja gerade die zahlreichen infrarotreflektografisch sichtbar gemachten Unterzeichnungen und deren zum Teil substantielle Abweichungen von der Maloberfläche. Auch Bloemacher scheint in diese Richtung zu denken, wenn sie ihre Aussage, die Vorlagen Raffaels "bildeten jeweils den Endpunkt des zeichnerischen Entwurfsprozesses" (309), verschiedentlich dahingehend relativiert, einzelne Vorlagenzeichnungen seien von Raffael nur mehr "als vorläufig vollendet" (109) oder wenigstens "weit fortgeschritten" (168), gar als "noch nicht ausformuliert" (267) erachtet worden. Doch was bringt die Autorin zu dieser offenbar wandlungsfähigen Einschätzung? Die in Rede stehenden Vorlagenzeichnungen seien immerhin von Raffael als Vorlagen für Kupferstiche erkoren worden (110), obzwar diese Nähe ja erst bewiesen werden soll. Insbesondere Bloemachers Analyse der Entwurfs- und Ausführungsgeschichte der Madonna mit Heiligem Johannes in der Galleria Borghese (98-104) zeigt die Untrennbarkeit des Entwurfsprozesses auf Papier und Malgrund. Wenn freilich eine solche Grenze nicht eindeutig gezogen werden kann, entfällt die Möglichkeit, mit der Gleichzeitigkeit des Abzweigs von der Vorlagenzeichnung zum Gemälde einerseits und dem Kupferstich andererseits eine Werkstattnähe zu demonstrieren. Und hätte eine enge Verbindung, die Bloemacher nachweisen möchte, nicht gerade dazu geführt, dass auch letzte, häufig entscheidende Änderungen in irgendeiner Weise in die Druckgrafik eingehen? So ist im Falle der von Raimondi nach Raffael ausgeführten Heiligen Cäcilie sowie sehr augenfällig bei dem Marco Dente zugeschriebenen Kupferstich Maria, das Christuskind an sich ziehend (Bartsch XV.20.11) festzustellen, dass im Gegensatz zum Fortgang des Entwurfsgeschehens auf dem Malgrund dieser in der Druckgrafik gänzlich zum Stillstand kommt; beziehungsweise zu einem jähen Abbruch, wenn man das Entwurfsziel einer theologisch oder bildlogisch zutreffenden Wiedergabe einer Bildidee Raffaels auch der druckgrafischen Ausführung zugrunde legt. Diese wird aber in den genannten Beispielen gerade nicht erreicht, die Kupferstiche gelangten dennoch in Umlauf: Die Heilige Cäcilie mit den Musikinstrumente spielenden statt singenden Engeln, die das Christuskind an sich ziehende Maria mit einer unstimmigen Gewandpartie [2]: Hier und für andere Beispiele (vgl. 267) sucht man vergeblich nach irgendwelchen Anzeichen von Kommunikation zwischen den Werkstätten Raffaels und Raimondis. Bloemacher erkennt diese Inkonsistenz und macht den anregenden Vorschlag, dass die zwischen diesen Werkstätten unterdessen etablierten "Arbeitsprozesse [...] schon so 'standardisiert' waren, dass die ad hoc auf der Leinwand vorgenommenen Veränderungen nicht mehr für den Kupferstich aufgegriffen wurden [...]" (84). Aber sind es nicht diese von Bloemacher vermuteten standardisierten Arbeitsprozesse, die erst nachzuweisen das Anliegen ihrer Erörterung ist? Die Stärke des Buches liegt gerade darin, dass die Autorin mit der dichten und mitreißenden Beschreibung der möglichen Abläufe dem Leser Einwände ermöglicht, die sie offenbar gerne zulässt. Ihre in den systematischen Aufbau der Arbeit eingeflochtenen Hypothesen sind somit sehr produktiv und werfen weitere Forschungsfragen auf.

Sodann wendet Bloemacher sich dem Phänomen der Zweitversionen von Kupferstichen zu, wieder in dem Anstreben, die enge Zusammenarbeit zu belegen. Ihre Analyse des Morbetto ist außerordentlich überzeugend (205-207). Wenn hier, wie schon zuvor, faszinierende Einblicke in das Entwurfsgeschehen geboten werden, begleitet den Leser stets die weiterhin unbeantwortete [3], spannende Frage nach dem Grund der von Raimondi oder gar von Raffael getroffenen Auswahl der zur druckgrafischen Umsetzung gelangten Zeichnungen sowie der Kupferstiche, von denen eine zweite Version geschaffen wurde. Die diesen Abschnitt eröffnenden Ausführungen Bloemachers zu dem bekanntesten Fall einer zweiten Version, dem Bethlehemitischen Kindermord, sind ebenfalls überzeugend, anderes indessen muss offenbleiben: Warum erhält die Pietà eine zweite Version, nicht aber die vielen anderen Werke mit ihren motivischen wie technischen Schwächen? Wenn Raffael tatsächlich tonangebend die Änderungen von Bartsch 53 zu Bartsch 52 veranlasste (188-189), weshalb wurde dann nicht dem offenkundigen Mangel der Seitenverkehrung abgeholfen? Im Fall der Beweinung (Bartsch 37-39) wird ungeachtet der in der Pala Baglioni gefundenen Bildlösung zehn Jahre später auf der Basis der ersten Komposition eine zweite Version im Kupferstich ausgeführt. Dessen geringe Qualität sei der (hypothetischen) Reinzeichnung eines (hypothetischen) Raffael-Schülers geschuldet (189-190). Die Argumentation Bloemachers läuft auch hier darauf hinaus, dass in all dem ein "hohe[r] Grad von Organisation der druckgraphischen Produktion" erkennbar werde (190, vgl. auch 253). Hier zeigt sich als Schwäche des Buches, dass es den angestrebten Nachweis einer engen Zusammenarbeit zu sehr im Blick hat. Ein standardisierter bzw. hoher Grad der Organisation durch Raffael könne demnach zu "Zeitmangel" (225) und Minderleistung in der druckgrafischen Ausführung führen. Ebenso plausibel wäre, dass hier nur die Ergebnisse unzureichend organisierter Abläufe zu besichtigen sind. Die schönen Beobachtungen Bloemachers zum Fuß der Nereide (225) in Marco Dentes Kupferstich (Bartsch 229-I) weisen stringent auf den Charakter vieler der untersuchten druckgrafischen Blätter als Resteverwertung der Zeichnungen aus der Werkstatt Raffaels.

Es gibt im Kunstgeschehen, wie auch Bloemacher konstatiert (10), keine einfachen Kausalverhältnisse, und der "Bereich des Beweisbaren hat keine scharfe Grenze zur blanken Beliebigkeit. Dazwischen liegt eine Grauzone abstufbarer Plausibilität." [4] Für diese im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder auszuhandelnde Plausibilität beeindruckendes Material und weiterführende Gedanken zusammengetragen zu haben, ist eine große Leistung dieses gedankenvollen Buches.


Anmerkungen:

[1] Nelson Goodman: The Structure of Appearance, Cambridge, Mass. 1951, XV (im Orig. engl.).

[2] Raffael, Maria, das Christuskind an sich ziehend, ca. 1512/1513, Silberstift, weiß gehöht, auf grundiertem Papier, 161 x 128 mm. Oxford, Ashmolean Museum, Inv. Nr. 561.

[3] Paul Joannides: Drawings by Raphael and his Immediate Followers made for or employed for Engravings and Chiaroscuro Woodcuts, in: Joachim Jacoby / Martin Sonnabend (Hgg.): Raffael als Zeichner - Raphael as Draughtsman. Die Beiträge des Frankfurter Kolloquiums, Petersberg 2015, 149-166, hier 149.

[4] Alexander Demandt: Endzeit?, Berlin 1993, 11.

Ralf Bormann