Rezension über:

Roland Krischel (Hg.): Tintoretto. A Star was born, München: Hirmer 2017, 223 S., ISBN 978-3-7774-2942-7, EUR 45,00
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Rezension von:
Sören Fischer
Klosterkirche und Sakralmuseum St. Annen, Städtische Sammlungen, Kamenz
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Sören Fischer: Rezension von: Roland Krischel (Hg.): Tintoretto. A Star was born, München: Hirmer 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/06/31561.html


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Roland Krischel (Hg.): Tintoretto

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Die hier besprochene Publikation aus dem Hirmer Verlag begleitet die gleichnamigen Sonderausstellungen im Kölner Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud (6.10.2017-28.1.2018) sowie im Pariser "Musée du Luxembourg" (6.3.-1.7.2018) und bildet zugleich deren substanzielle inhaltliche Erweiterung.

Anlass für das Projekt war neben dem 2018 (bzw. 2019 [1]) gefeierten 500. Geburtstag des venezianischen Meisters vor allem auch aktuelle Forschung zum kleinen, feinen Tintoretto-Bestand an frühen Werken der Zeit 1537-1550 im Wallraf-Richartz-Museum. Um Redundanzen in Bezug auf frühere und kommende Tintoretto-Ausstellungen in Madrid und Rom (2007 und 2012) sowie in Venedig und Washington (2018/19) zu vermeiden, verschiebt der Katalog "Tintoretto - A Star was born" seinen Fokus von einer Gesamtschau hin zum stärker eingegrenzten Frühwerk; zumal, wie auch Marcus Diekert im Vorwort anführt, "das ausgesprochen ehrgeizige Frühwerk Jacopos in mehrerlei Hinsicht ein besonders spannendes Thema dar[stellt]: vor allem durch seinen teils noch suchenden Charakter, seine Experimentierfreude und thematische Vielfalt". [2] Der Katalog versteht sich dabei auch als kritische Würdigung der 1950 von Rodolfo Pallucchini (1908-1989) vorgelegten Studie "La Giovinezza del Tintoretto" zum Frühwerk des venezianischen Malers (18-23).

Der 224-seitige, durchgehend farbig gedruckte Hardcoverkatalog teilt sich mit "Essays", "Katalog" und "Anhang" in drei Abschnitte. Die sieben jeweils kurzen Essays, für die Krischel als Autoren Stefania Mason, Giuseppe Gullino, Linda Borean, Michael Hochmann, Erasmus Weddingen und Guillaume Cassegrain gewinnen konnte, widmen sich den politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Rahmenbedingungen im Venedig der frühen Schaffensjahrzehnte Tintorettos (24-31), beleuchten den Forschungsstand zu dessen Biografie, Werkstattkontext und schriftlicher Überlieferungsgeschichte (32-55) und versuchen eine Annäherung an seine künstlerische Strategie (56-61). In Vorbereitung des Katalogteils bieten die sieben Essays damit auch dem weniger versierten Leser einen klaren, verständlichen Einstieg in die venezianische Kunstwelt des jungen Tintoretto im Speziellen und Venedigs zwischen ca. 1520 und 1550 im Allgemeinen. Erfreulich ist die Tatsache, dass zahlreiche italienische Quellentexte zugleich auch in deutscher Übersetzung angeboten werden.

Gerade die biografisch ausgerichteten Beiträge führen eindrücklich vor Augen, wie dünn in vielen Aspekten die Überlieferungsgeschichte Tintorettos und damit die Skizzierung seiner Anfangsjahre immer noch ist. Zwar haben sich, wie Borean schlaglichtartig skizziert, verschiedene Autoren der Zeit um 1540/50 mit dem aufstrebenden Tintoretto beschäftigt - ein untrügliches Zeichen für seine bereits zu dieser Zeit etablierte Popularität in der dicht gedrängten venezianischen Kunstwelt -, schwerlich ließen sich die Äußerungen von Aretino, Andrea Calmo, Paolo Pino oder Anton Francesco Doni (ganz zu schweigen vom späteren Vasari und Ridolfi) jedoch als absolut verlässliche Quellen heranziehen. Die Jugend Tintorettos bleibt also auch im Licht der zeitgenössischen Quellen "ein problematisches Kapitel" (32). Dieses unscharfe, auf die Biografie bezogene Bild trifft, wie Krischel herausarbeiten kann, ebenso auf die Zuschreibungen zu. Dabei herrsche aufgrund häufig fehlender Signaturen und der "polyphonen" (53) Qualität von Tintorettos Werken große Bewegung in der Zuschreibung: "Der Schmelztiegel Venedig bildet sich in ihnen [in Tintorettos Gemälden] als Stimmengewirr aus Stileinflüssen unterschiedlichster Provenienz ab. Umso schwieriger ist es, die Grenzen um sein Oeuvre und das seiner Werkstatt zu ziehen" (53).

An wenigen Stellen hat die Knappheit der Beiträge zu Verkürzungen von Aussagen geführt. Besonders Giuseppe Gullino, der die Aufgabe hatte, die komplexen politisch-gesellschaftlichen Ereignisse in der Welt, in Europa und Venedig im frühen 16. Jahrhundert als Voraussetzung für die Blüte der venezianischen Kunstproduktion darzustellen, hätte man beispielsweise mehr Seiten für seine wichtigen Ausführungen gewünscht (24-31). So mündet der stark zusammenfassende Charakter seines Textes in Bezug auf die Stellung der Künstler innerhalb der Stadtgesellschaft unter dem Dogen Andrea Gritti und seinen Nachfolgern beispielsweise in der folgenden idealisierenden Vereinfachung: "Frei von akademischen Regularien und Prozeduren konnte die Stadt den Impulsen von Künstlern und Auftraggebern freien Lauf lassen." (27) Dem nicht versierten Leser wird hier eine künstlerische Liberalität suggeriert, die die Zwänge und Grenzen der Kunst ausblendet - man denke an Paolo Veroneses Auseinandersetzungen mit der kirchlichen Glaubensgerichtsbarkeit im Jahr 1573. Und wenn Alvise Cornaro, eine der zentralen Figuren in der Etablierung der venezianischen Villenkultur und neben Personen wie Pietro Bembo und Marco Mantova Benavides zugleich wichtigster Förderer der Künste in Padua, von Gullino als "skrupelloser Betrüger" (29) tituliert wird, ist hier ein Bild bedient, das in der Forschung in Bezug auf Cornaros Landgewinnungsprojekte zwar bereits früher gezeichnet wurde [3], in zahlreichen, auch jüngeren Untersuchungen allerdings durch eine ausgewogenere Würdigung von dessen humanistischen Lebensleistungen im Bereich der sogenannten Villeggiatura relativiert wurde. [4]

In Übereinstimmung mit dem kuratorischen Prinzip der Sonderausstellungen gliedert sich der anschließende Katalogteil in sieben Abschnitte (70-201). Dieser behandelt in 63 Katalognummern Werke der Tintoretto-Zeit sowie - als zeitgenössischer Akzent und Beispiel für eine aktuelle Tintoretto-Rezeption - als finale Nummer 64 eine 2013 entstandene Arbeit (Variation auf Tintorettos "Sklavenwunder") von Jorge Pombo. Bewusst verzichtet der Katalog auf eine chronologische Ordnung der ausgestellten Werke. Stattdessen gelingt es sehr überzeugend mit Kapiteln wie "Schönheit und Schrecken", "Kulissenzauber" oder "Femmes Fatales" zentrale Themen- und Motivfelder Tintorettos überhaupt zu beleuchten. Die jeweiligen Katalogtexte zeichnen sich als durchweg gelungene Einführungen in die Werke aus, auch wenn einige sehr verdichtete Überlegungen - beispielsweise zu den teils komplexen, umstrittenen Zuschreibungsdiskussionen - wohl nur von Tintoretto-Experten gänzlich bewertet werden können; jedoch: Es ist das gute Recht eines Ausstellungskatalogs, sich in Teilen auch an den kleinen Kreis des Fachpublikums zu richten und diesem Impulse für weitere Forschungsdiskussionen zu bieten.

Immer wieder leuchten dabei inspirierende Gedankenbilder heraus, die man weiterverfolgen möchte. So beispielsweise, wenn Krischel die weiten, illusionistischen Architekturräume der venezianischen Malerei um 1550 als ästhetische Reaktion auf die enge, gedrängte Stadtwelt Venedigs deutet (55). Malerei als Akt des räumlichen Ausbrechens!

Um die Innovationsleistung Tintorettos und dessen künstlerischen Mut bereits in seinen jungen Schaffensjahren zu verdeutlichen, stellt der Katalog u.a. dem Tintoretto-Gemälde "Anbetung der Könige" (Kat. 1, Museo Nacional del Prado) sehr nachvollziehbar das Francesco da Santacroce zugeschriebene gleichnamige Werk aus der Fondazione Museo Francesco Borgogna (Kat. 2) gegenüber. Gerade der Bildvergleich - eine der kunsthistorischen Kernkompetenzen - macht dem geschulten Auge das Neuartige von Tintorettos Malereiverständnis deutlich. Hier aber hätte man sich mehr didaktische Auswertung gewünscht, gerade weil Tintorettos Gemälde "Anbetung der Könige" das früheste aufgeführte Werk ist (um 1537/38). Der Katalog hingegen verharrt knapp: "In Jacopos Gemälde wird das kühne Experiment zum Unterpfand für die Bedeutung des biblischen Ereignisses" (81). Wie aber genau manifestiert sich das räumliche, szenische wie rein malerische Experiment, und was bewirkt Tintorettos kühne Hinterfragung der künstlerischen Tradition in Bezug auf die biblische Interpretation des Ereignisses?

Der auch ansonsten mit seinem Layout in edler Erscheinung auftretende Katalog "Tintoretto - A Star was born" - das Buch schließt mit Literaturverzeichnis und Index (205-223) - bietet über die zwei Sonderausstellungen in Köln und Paris hinaus reiches Anschauungsmaterial. Zugleich fasst er die Ergebnisse der mehrjährigen Forschungsleistungen und ihres wissenschaftlichen Ertrags zusammen (14). Es ist ein Tintoretto-Buch entstanden, dass den Leserinnen und Lesern in der Tat "ein malerisches Paralleluniversum [präsentiert], das mit Macht in die Welt des Betrachters drängt" (70).


Anmerkungen:

[1] Das Geburtsdatum Tintorettos ist umstritten. Siehe einführend Linda Borean: Mutmaßungen über Jacopo [...], in: Tintoretto - A Star was born, München 2017, 34.

[2] Marcus Diekert: Vorwort, in: Tintoretto - A Star was born, München 2017, 8.

[3] Siehe bes. Reinhard Bentmann / Michael Müller: Die Villa als Herrschaftsarchitektur. Versuch einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse, Frankfurt a.M. 1970, bes. 22-24.

[4] Margherita Azzi Visentini: Die italienische Villa. Bauten des 15. und 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, 222-223; Guido Beltramini: Fondali di vita all'antica e complessi di villa. La nuova residenza di campagna del Veneto del Cinquecento prima di Palladio, in: Andrea Palladio e la villa veneta da Petrarca a Carlo Scarpa, Venedig 2005, 55ff.; Gianni Moriani: Palladio architetto della villa fattoria, Verona 2008, 21-25.

Sören Fischer