Rezension über:

Lennart Gilhaus (Hg.): Fragmente der Historiker: Die Alexanderhistoriker (FGrHist 117-153) (= Bibliothek der griechischen Literatur; Bd. 83), Stuttgart: Anton Hiersemann 2017, VII + 514 S., ISBN 978-3-7772-1721-5, EUR 218,00
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Rezension von:
Michael Rathmann
Fachgebiet Geschichte, Lehrstuhl Alte Geschichte, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Michael Rathmann: Rezension von: Lennart Gilhaus (Hg.): Fragmente der Historiker: Die Alexanderhistoriker (FGrHist 117-153), Stuttgart: Anton Hiersemann 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 7/8 [15.07.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/07/30955.html


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Lennart Gilhaus (Hg.): Fragmente der Historiker: Die Alexanderhistoriker (FGrHist 117-153)

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Die Quellenlage für Alexander den Großen ist bekanntermaßen nicht optimal, da das Gros der uns vorliegenden Zeugnisse mit erheblichem zeitlichem Abstand verfasst wurde. Die zeitnahen und frühhellenistischen Autoren sind nämlich nur fragmentarisch überliefert und in der Sammlung von Felix Jacoby (FGrHist) zusammengetragen. Diese Texte sind aber im Grunde gar keine echten Fragmente, sondern vielmehr unsystematische Zitate von Alexander-nahen Historikern bei späteren Autoren. [1] Die Lage ist also kompliziert und hat zu einem heterogenen Alexanderbild in der Forschung geführt. Daher wird gerne auf das Bonmot von Ulrich Wilcken verwiesen, wonach eigentlich jeder Althistoriker seinen eigenen Alexander habe. [2]

Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass Lennart Gilhaus sich die Arbeit gemacht hat, die besagten fragmentarisch überlieferten Autoren aus der unmittelbaren Zeit des Makedonenkönigs ins Deutsche zu übertragen. Die Liste der nunmehr in Übersetzung vorliegenden Werke reicht von den königlichen Ephemeriden (FGrHist 117) bis zu den sog. Alexander-Geschichten (FGrHist 153). [3] Zu den spannenden Autoren gehören zweifelsohne Ptolemaios (FGrHist 138) sowie Aristobulos (FGrHist 139). Zudem kann man nun gefällig die Textzeugnisse eines Onesikritos (FGrHist 134) und Nearchos (FGrHist 133) herunterlesen und vergleichen, die sich bekanntermaßen gegenseitig kritisierten. Aber auch so manch 'kleiner' Autor wird durch einen solchen Sammelband erfreulicherweise nochmals mit Aufmerksamkeit bedacht. Neben einer recht knappen Einführung in den gesamten Themenkomplex (1-6) orientiert Gilhaus seine Leser zu jeder Einzelquelle mit eine paar erläuternden Worten. Diese sind ebenso knapp wie gelungen. Insgesamt fallen für den Themeneinsteiger alle notwendigen Schlagworte, während der fortgeschrittene Leser u.a. durch aktuelle bibliographische Angaben auf seine Kosten kommt. Hinsichtlich der Kommentierung (357-459) kann sich Gilhaus, wie er im Vorwort bemerkt, auf die bereits vorhandenen Neubearbeitungen der Fragmente im Rahmen von Brill's New Jacoby stützen. Zu Recht verweist er auch darauf, dass der vorliegende Band aus dem Berg an Alexanderliteratur Material bestenfalls schlaglichtartig einarbeiten kann. Von einem solchen Buch etwas anderes zu erwarten, wäre unredlich. Dementsprechend muss die umfangreiche Bibliographie ein Ausschnitt bleiben. [4] Da jeder Althistoriker seinen Alexander hat, um bei Wilckens Bild zu bleiben, wird auch jeder andere Prämissen bei der Kommentierung und Literaturauswahl setzen. Vor diesem Hintergrund hat Gilhaus die Aufgabe der Einleitung, Kommentierung und Bibliographie sehr gut gelöst.

Unzweifelhaft sollte bei diesem Band die Übersetzung von Gilhaus im Zentrum stehen. Da die überwiegende Anzahl der Texte dieser Ausgabe auch in anderen Übersetzungen greifbar ist, bot sich ein Vergleich mit renommierten und in der Forschung etablierten Versionen an. So wurden stichprobenartig bei Strabon [5] die Übertragung von Stefan Radt, bei Plutarch diejenige von Konrat Ziegler, bei Athenaios diejenige von Claus Friederich und bei Arrian diejenige von Gerhard Wirth herangezogen. Dabei stellte sich heraus, dass Gilhaus durchgängig eine eigenständige und textnahe Übertragung bietet, die im Deutschen gut lesbare Texte liefert, die dennoch möglichst nahe am Original bleiben. Das vorliegende Buch ist deutlich mehr als eine Kompilation älterer Übersetzungen.

Nur gelegentlich versucht Gilhaus seine Vorlagen zu 'übertreffen', was nicht immer gelingt. Exemplarisch sei auf die berühmte Stelle aus dem Werk des Haushofmeisters Chares von Mytilene (FGrHist 125) verwiesen. Dieser beschreibt zum Jahr 324 ein legendäres Wettsaufen am Hofe Alexanders, das in der Literatur gerne als symptomatische Aktion eines Königs angeführt wird, der sich immer stärker den Realitäten verweigerte. [6] Der Sieger Promachos (Berve Nr. 660) schaffte jedenfalls 13 Liter Wein, bevor er kurz darauf verschied. Angeblich sollen noch weitere 41 Personen den Exzess nicht überstanden haben. Gilhaus bietet nun auf S. 91 den Text des Chares (F 19b = Plut. Alex. 70,1-2) in folgender Übersetzung: "Nachdem Alexander vom Scheiterhaufen zurückkehrt war, versammelte er viele seiner Freunde und Offiziere zu einem Gastmahl und veranstaltete ein Wetttrinken mit ungemischtem Wein, wobei er einen Kranz als Preis in Aussicht stellte. [2] Promachos, der Mann, der am meisten trank, schaffte vier Choen und erhielt den Siegespreis, einen Kranz im Wert von einem Talent. Er lebte aber nur noch drei Tage. Und was die anderen angeht, so starben nach Chares' Aussage, 41 an den Folgen des Trinkens, da ein heftiger Schüttelfrost nach der Ausschweifung einsetzte."

Besonders interessant und fast ein Musterfall für die Problematik einer Übertragung ist der letzte Satz. Woran genau sterben nun die 41 Saufkumpanen? Der Text lautet: τῶν δ' ἄλλων, ώς Χάρης φησί, τετταράκοντα καί εἷς ἀπέθ ανον πιόντες, ἰσχυροῦ τῇ μέθῃ κρύους ἐπιγενομένου. Konrat Ziegler übersetzt ihn wie folgt: "Von den anderen, die an dem Wetttrinken teilgenommen hatten, starben - wie Chares berichtet - noch einundvierzig, weil, während sie im Rausch lagen, scharfer Frost eintrat." Natürlich heißt κρύος üblicherweise Frost. Und natürlich kann man auch dann an Unterkühlung sterben, wenn es über null Grad ist. Nur waren die wackeren Trinker ja nicht allein, und grundsätzlich kannten sich die Hetairen um Alexander mit Besäufnissen aus. Wie Vössing, auf den Gilhaus im Kommentar (384) verweist, bemerkt, darf man auch von einem größeren Kreis von Symposiasten ausgehen, so dass irgendwelche Hetairen, die noch nüchtern waren, oder auch Pagen/Sklaven sich um die 41 Leute gekümmert hätten, wenn es gegen Morgen kalt geworden wäre. [7] Die Übersetzung von Gilhaus zielt jedoch auf eine medizinische Deutung der Stelle und lässt bei den 41 Personen Schüttelfrost aufkommen. Nur ist dies schon mehr Interpretation als Übersetzung, weshalb Gilhaus womöglich mit einer kleinen Modifikation der Zieglerübertragung von "scharfer Frost" zu "heftiger Kälte" besser gefahren wäre. Diese Version wäre näher beim Original geblieben und hätte zugleich die Deutung eines zusammenbrechenden Kreislaufs nach massiver Unterkühlung angedeutet. Nichtsdestotrotz zeigt aber diese Petitesse, auf welch hohem Niveau sich die Übertragung von Gilhaus grundsätzlich bewegt.

Das vorliegende Buch ist in der Summe rundweg zu loben. Die kompakte Präsentation an Quellen wird in Zukunft jeder thematisch Interessierte sehr gerne zur Hand nehmen, der sich mit Alexander und seiner Zeit beschäftigen möchte.

Jedoch bleiben zwei Kritikpunkte, die nicht in die Verantwortung von Gilhaus fallen: Zunächst wäre der Preis zu nennen. Ohne Zweifel ist das Buch hochwertig produziert, über 500 Seiten stark und stellt somit einen Wert als solches dar. Aber 218 Euro dürften selbst für solvente Bibliotheken eine nennenswerte Hürde bei der Anschaffung darstellen, von Privatpersonen ganz zu schweigen. Das kann nicht im Interesse des Verlages liegen - in dem des Autors erst recht nicht. Des Weiteren ist nicht verständlich, warum diese renommierte Reihe bei einsprachigen Ausgaben verharrt. Selbst der Reclam Verlag ist hier weiter. Da die Preispolitik des Verlages jedoch eine gewisse Konstanz aufweist und die Kunden offenbar nicht abgeschreckt wurden, bleibt nur zu wünschen, dass nach der Übersetzung von Theopomp (FGrHist 115), Ephoros (FGrHist 70), Nikolaos von Damaskus (FGrHist 90) und dem aktuellen Band in der Reihe Bibliothek der griechischen Literatur auch weiterhin so interessante Bücher folgen mögen. Ein vergleichbarer Band zum Frühhellenismus wäre beispielsweise wünschenswert.


Anmerkungen:

[1] Einen immer noch lesenswerten wie kompakten Überblick zur Quellenlage bietet Jakob Seibert: Alexander der Große. Erträge der Forschung Bd. 10, Darmstadt 1994, 1-61; s. ferner Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart 1990, 102-123.

[2] Ulrich Wilcken: Alexander der Große, Leipzig 1931, VII.

[3] Unter Nr. 153 finden sich dann auch diverse 'echte' Fragmente in Form von Papyri.

[4] Dennoch hätte man sicherlich Platz für fehlende Basisbeiträge der Alexanderforschung schaffen können, indem man Titel wie jene von Mischa Meier zur Geschichte des frühes Spartas (474) ebenso aus der Liste genommen hätte, wie den von Hartmut Leppin / Werner Portmann zum spätantiken Themistios.

[5] Unklar ist, warum Gilhaus bei Strabon die Casaubonius-Zählung auslässt, sie bei Athenaios hingegen nennt. Offenbar ist Gilhaus hier Jacoby gefolgt, der ebenso verfährt.

[6] Vgl. hierzu Wolfgang Will: Alexander der Große, Stuttgart u.a. 1986, 145f.

[7] Konrad Vössing: Mensa Regia. Das Bankett beim hellenistischen König und beim römischen Kaiser, München / Leipzig 2004, 82 übersetzt "... weil, während sie im Rausch lagen, scharfer Frost einsetzte".

Michael Rathmann