Hans-Ulrich Wiemer: Theoderich der Große. König der Goten, Herrscher der Römer. Biographie, München: C.H.Beck 2018, 790 S., 17 Kt., 9 Farb, 37 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-71908-0, EUR 34,00
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Hans Beck / Hans-Ulrich Wiemer (Hgg.): Feiern und Erinnern. Geschichtsbilder im Spiegel antiker Feste, Berlin: Verlag Antike 2009
Hans-Ulrich Wiemer (Hg.): Staatlichkeit und politisches Handeln in der römischen Kaiserzeit, Berlin: De Gruyter 2006
Im Grunde ist dieses Buch längst überfällig. Dass es endlich erschien, ist Hans-Ulrich Wiemer zu danken. Es ist das erklärte Ziel des Autors, eine andere Geschichte zu erzählen (35), und das gelingt ihm auch, weil ihm vom Verlag keine Umfangsbeschränkung auferlegt wurde und er damit ein Privileg erhielt, das heutzutage nur selten mehr vergeben wird. Und er hat dieses wie keiner vor ihm zuvor genützt, indem er eine weitgehend vollständige Berücksichtigung der Überlieferung erarbeitete. Vor allem hat Wiemer die Variae Cassiodors in vielfältiger Weise erfasst und in schönen Übersetzungen seiner Darstellung eingefügt.
Das Buch ist in 13 Großkapitel gegliedert, wovon Kapitel III (61-107) und etwa zur Hälfte Kapitel IV (108-132) den geschichtlichen Voraussetzungen ("Wer waren die Ostgoten?" und "Von Attila zu Theoderich. Die Ostgoten auf dem Balkan") der Gestalt Theoderichs des Großen gewidmet sind. In Kapitel I (18-35) beginnt der Autor die Annäherungen an seinen Helden mit dessen eigenhändiger, grauenhafter Ermordung Odoakers Ende Februar 493 und setzt in den folgenden Abschnitten mit der stilistisch höchst erfreulichen Darstellung der Biographie fort. Dabei wird kein Thema ausgelassen, von der Erwerbung und Ausübung der Macht in Italien und der Sicherung des Landes gegen die auswärtigen reges et gentes, von der Religionspolitik des Homöers (vulgo Arianers) Theoderich gegenüber der katholisch-römischen Mehrheit und der Beschützung der jüdischen Minderheit bis zur Untersuchung des aus Goten und Römer gebildeten "Doppelstaates" (260-329). Selbstverständlich durften auch die Modalitäten der wirtschaftlichen Ausstattung der Kriegerverbände nicht fehlen, die Theoderich unter dem Gotennamen nach Italien gefolgt waren. Wiemer lehnt die Goffart/Durliat-These ab, wonach Theoderichs Goten mit Steueranteilen ausgestattet wurden, und versteht das den Neuankömmlingen zugeteilte Drittel als Zuteilung von Grund und Boden. Das Buch ist Wolf Liebeschütz zum 90. Geburtstag gewidmet, und dieser große britische Gelehrte hielt nichts von der Zuteilung von Steueranteilen. Die 1980 mit dem Erscheinen von Walter Goffarts "Barbarians and Romans. The Techniques of Accommodation" [1] eröffnete Diskussion dauert bis heute an; ihre Zwischenbilanz, auf die sich die Mehrheit der Diskutanten bisher einigen konnte, lautet: es gibt keine monokausale Erklärung der Vorgänge, sondern es ist von Fall zu Fall mit Mischsystemen zu rechnen. Zumeist und auch vom Autor wurde übersehen, wie der trickreiche Amaler Sidimund, ein Verwandter Theoderichs des Großen, versorgt wurde. Er lebte als Föderat mit seinen Leuten in der Epirus. Sein Einkommen bestand aus drei Teilen, aus fruchtbarem Land, aus Steueranteilen und aus einem Gehalt, das ihm der Kaiser zahlte. Das italische Ansiedlungsmodell, das Liberius 493 im Auftrag Theoderichs entwarf, dürfte der Sidimund-Ausstattung in etwa geglichen und jedenfalls von Odoakers Maßnahmen abweichende und daher die Römer angenehm überraschende Elemente umfasst haben. [2] Erfreulicherweise erhielt Wiemer noch Kenntnis (86 und 90) von den Scythica Vindobonensia benannten Palimpsestforschungen von Jana Grusková und Gunther Martin. Der in diesen Dexippos-Fragmenten erwähnte Ostrogotha hat jedoch in der Zwischenzeit deutlichere Gestalt angenommen und ist von dem mythisch-heroischen Ostrogotha der Getica 79 zu unterscheiden. Der historische Ostrogotha war im Gegensatz zum höchst erfolgreichen König (basileus) Kniva ein wenig erfolgreicher, ja feiger nichtköniglicher Heerführer (archon). Er hieß "Glanzgote", wie die viel später erstmals bezeugten Ostrogothen die "Glanzgoten" waren, die es jedoch in der Zeit um 250 noch lange nicht gab. Nicht auszuschließen ist zum andern ein zweiter historischer Ostrogotha, der um 290 die Terwingen erfolgreich gegen die Gepiden unter Fastida führte (Getica 97-100). Der mythisch-heroische Ostrogotha wurde wohl von Cassiodor als möglicher Heros eponymos der ostgotischen Memoria zugeordnet, während die beiden anderen westliche Goten waren. Eine Brücke zwischen den beiden Traditionen versucht Cassiodor mit der anachronistischen Behauptung zu schlagen, Ostrogotha sei noch der König beider Gotenvölker gewesen (Getica 98). [3]
Der Autor konnte selbstverständlich nicht umhin, sich mit den Arbeiten und Auffassungen des Rezensenten auseinanderzusetzen (siehe bes. 34f. und 68f.). In diesen Fällen empfiehlt es sich, diese Arbeiten zum Vergleich heranzuziehen. So gilt die Annahme, die Königsfamilien Amaler und Balthen hätten allein die gotische Identität garantiert, selbstverständlich und auch dann nicht ausschließlich nur für den Beginn der gotischen Geschichte auf Reichsboden, obwohl Getica 42 diese Verfassung anachronistisch bereits für die am Pontus angekommenen Goten behauptet. Dieses Erklärungsmodell provoziert allerdings die Frage: Wie erfolgreich war die Verfassung der Goten in dem Millennium ihrer Existenz, wenn sie die Hälfte davon keine eigenen Könige besaßen und daher ohne "Eigenstaatlichkeit" auskommen mussten? Wer waren in dieser Zeit die Träger ihrer von außen und innen "durchmischten" Tradition, die ihre ethnische Identität bewahrte? Wer war es, in dessen Interesse es lag, dass der Name der Goten so lange nach dem Untergang ihrer Reiche nicht erlosch? Dass die gotische Sprache zur lingua theodisca zählte, kann es nicht gewesen sein, weil diejenigen Goten, die sie noch sprachen, in Thrakien und auf der Krim lebten, die Goten des Frankenreichs sie jedoch längst aufgegeben hatten. Wenn nicht ihre Sprache, war es vielleicht das gotische Recht, das der Frankenkönig Pippin I. ausdrücklich anerkannte und erst der französische König Ludwig IX. in der Mitte des 13. Jahrhunderts aufhob? Aber ein Recht existiert nicht an sich; es muss Menschen gegeben haben, denen die lex Gothica so viel bedeutete, dass sie nach der Anerkennung ihres Rechts im heutigen Südfrankreich aus Sarazenen wieder zu Goten wurden. Oder war es die aus der libertas Gothorum, aus der Freiheit des gotischen Grundbesitzers abgeleitete Identität, die ohne Könige auskam? Wer aber garantierte diese Freiheit? War es die politische Theorie der nordspanischen Reconquista, die der Goten als Legitimierung bedurfte? Das am ehesten. Aber im Grunde steht eine schlüssige Antwort auf alle diese Fragen noch aus. [4]
Wiemer beendet sein Werk in Kapitel XIII mit dem Nachleben des Ostgotenkönigs bis zur frühen Bundesrepublik (618-656). Dieser sehr lesenswerte, verständlicherweise keineswegs auf Vollständigkeit abzielende Abschnitt vermittelt einen guten Überblick und handelt auch von dem wohl ebenfalls unlösbaren Problem, wie aus Theoderich der landflüchtige Dietrich von Bern wurde (636f.). Bereits die Annales Quedlinburgenses vom Beginn des 11. Jahrhunderts kennen dieses Motiv. Der Text wurde wahrscheinlich von einer den Ottonen sehr nahestehenden Frau verfasst. Wiemer übergeht diese Quelle, erwähnt aber die Thidrekssaga, in der im 13. Jahrhundert ein Sachse einen König Thidrek in die Gestalt Constantins des Großen schlüpfen ließ. Er erzählte seinen norwegischen Zuhörern, dass in jenes Königs Tagen die Christen die Irrlehre des Arius verdammten, worauf Thidrek, Meister Hildebrand und das ganze Römerreich sich erneut zum Christentum bekehrten. Aber nicht nur Constantin wurde zu Thidrek, auch der Caballus Constantini zu Thidreks Ross Falke. [5] Sucht man in der italischen Geschichte Theoderichs nach einem landflüchtigen König, findet man einen solchen in Getica 24, wo ein skandinavischer König Roduulf (um 500) sein Reich aufgab und in Ravenna (Aufnahme) "fand, wie er es wünschte". Von diesem König könnte auch die Geschichte von der skandinavischen Herkunft der Goten stammen.
Zum Abschluss sei noch vermerkt, dass der Erulerkönig auf S. 81 unten Alarich (Getica 117) und nicht Vismar hieß. Aber das ist bloß ein "Schönheitsfleck" in einem opus magnum.
Anmerkungen:
[1] Walter Goffart: Barbarians and Romans, A.D. 418-584. The Techniques of Accommodation, Princeton, New Jersey 1980.
[2] Herwig Wolfram: Gotische Studien. Volk und Herrschaft im frühen Mittelalter, München 2005, 194-204.
[3] Die Arbeiten von Jana Grusková und Gunther Martin behandelt ausführlich Herwig Wolfram: Ostrogotha - ein mythischer Amaler erhält zumindest einen historischen Namensvetter, in: Lebenswelten zwischen Archäologie und Geschichte. Festschrift für Falko Daim zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Jörg Drauschke, Ewald Kislinger, Karin Kühtreiber, Thomas Kühtreiber, Gabriele Scharrer-Liška und Tivadar Vida (Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums; 150), Mainz 2018, 447-457. Diese Arbeit bildet einen Vorbericht zu einer wesentlich umfangreicheren Untersuchung, die für die Zeitschrift Tyche vorbereitet wird.
[4] Wolfram, Gotische Studien, 235f.; Herwig Wolfram: Das Römerreich und seine Germanen. Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft, Wien / Köln / Weimar 2018, 29f.
[5] Herwig Wolfram: Constantin als Vorbild für den Herrscher des hochmittelalterlichen Reiches, in: MIÖG 68 (1960), 226-243, hier 241f.
Herwig Wolfram