Philipp Heßeler: Grundlose Gestaltung: Kunstphilosophische Überlegungen zu Schelling und Mondrian (= Konstellationen - die Philosophie und die Künste), München: Wilhelm Fink 2017, 309 S., ISBN 978-3-7705-6218-3, EUR 49,90
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Piet Mondrians neoplastizistisches Werk der Zwanzigerjahre wird häufig als absoluter Höhepunkt abstrakter Kunst angesehen. Nach einhelliger Forschungsmeinung wurden hier die Errungenschaften des repräsentativen Tafelbildes gänzlich negiert. Mondrian verstand das Verhältnis von Fläche und Linie in dieser Phase als neue, paradoxe Einheit. Die Bilder stellen letztlich ostentativ ihr Gemachtsein aus, das Sehen selbst wird thematisiert. Prophetisch verweisen sie mit ihrer flat- und literalness außerdem schon auf die Kunst der 1960er-Jahre und besonders die minimal art. Bei Philipp Heßeler werden sie zum Exemplum einer indifferenten Bildeinheit, die wiederum konzeptionell aus der Philosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings entwickelt wird. Die in Bonn verfasste Dissertation knüpft direkt an Vorüberlegungen von Regine Prange an [1], figuriert aber als rein philosophische Arbeit. Bei Prange wurde Schelling zum wichtigsten Überlieferer der idealistischen Kunstphilosophie aus der Zeit um 1800. Heßeler macht ihn hingegen zum Werkmeister einer modernen Theoriearchitektur. Es geht um die Anwendung der Philosophie als Werkzeug für Theorie und Interpretation, nicht um eine direkte Einfluss- oder Rezeptionsgeschichte für die Kunst der Moderne im frühen 20. Jahrhundert. Darin besteht die große Qualität der vorliegenden Arbeit, die nicht den unscharfen Vermittlungswegen der klassizistischen Kunstdoktrin folgt, sondern eine veritable Methode entwickelt, die auch bei anderen Künstlern und Epochen Anwendung finden könnte. Heßelers Lesart von Schelling könnte aber selbst wiederum innerhalb der Fachtradition der Kunstgeschichte historisiert werden, soll der Vergleich zu Mondrian nicht nur exemplarisch wirken.
Die sehr klar strukturierte Arbeit führt zunächst im einleitenden Kapitel Schellings philosophisches System vor. Im zweiten Abschnitt konkretisiert sich dessen Ziel in den Konzepten der intellektuellen sowie ästhetischen Anschauung, bevor diese im dritten Kapitel in Mondrians Werk gespiegelt werden.
Schellings System des transzendentalen Idealismus (Kap. 1) steht im Mittelpunkt von Heßelers Untersuchung, nicht die spätere Vorlesung zur Philosophie der Kunst. [2] In der Vermittlung von Subjekt und Objekt, von Welt und Ich, von Freiheit und Notwendigkeit, setzte sich Schelling von seinem Vorbild Fichte ab. Schelling steckte bekanntlich den Geist in die Natur und umgekehrt. Gelingen kann dies nur in der Selbstbewusstwerdung des Ichs, wesentlich verstanden als prozessuales Zurückgehen vor die Erfahrung des gegenwärtigen Bewusstseins. [3] Nur im Postulat der intellektuellen Anschauung kann der Mensch im unendlichen Regress versuchen, sich dem Ausgangspunkt anzunähern - der absoluten Einheit von Subjekt und Objekt. Für Heßeler liegt der Clou aber nicht in der Schau des Absoluten, also etwa der göttlichen Offenbarung, sondern in einer anwendungsorientierten Vorstellung einer indifferenten Einheit. Die Selbstbewusstwerdung lässt sich besonders in der Synthese paradoxaler Strukturen nachvollziehen. Nur die Kunst vermag es nun als Organon der Philosophie diesen Prozess in der ästhetischen Anschauung auch sichtbar zu machen. Heßeler gelingt es in der überaus eingängigen Einleitung, diese komplexe Lesart von Schellings System plastisch vorzustellen und kritisch in der Forschungslandschaft zu verorten.
Beide Anschauungsarten werden im nächsten Kapitel näher expliziert (Kap. 2). Die intellektuelle Anschauung wird dabei über die Metapher der Linie vorgestellt, was dem eher philosophisch ausgerichteten Abschnitt große Anschaulichkeit gibt. Immer wieder werden dabei Analogien zur Kunstwelt gestreut, etwa zu John Cage, Hitchcock oder Dürer. Teilweise fungieren die Beispiele als Heuristik, um Schellings Werk zu erklären, teils erhellt sein Denken aber die moderne Kunst. Hinter der ästhetischen Anschauung verbirgt sich wiederum eine komplexe Genieästhetik, die sich mithilfe Heßelers als hochmoderne Produktions- wie Rezeptionsästhetik zu erkennen gibt. Schelling übergeht die individualistische Renaissancetradition und sieht den Künstler im Rückgriff auf die Antike als überindividuelles Medium agieren, in dem prozesshaft ein Werk entsteht. Als Austarieren von Notwendigkeit und Freiheit, Zeit- und Ichgebundenheit, wiederholt sich hier im Kleinen, was im Großen die Selbstbewusstwerdung des Ichs befeuert. Gerade diese Vorstellung prozesshaften Produzierens und Erlebens erscheint anschlussfähig für die Kunstgeschichte, etwa bis zu Jackson Pollocks action paintings.
Endlich bei Mondrian angelangt (Kap. 3) wird zunächst das Schwellenbild Schachbrett mit hellen Farben (1919) vorgestellt, bevor es zur entscheidenden Komposition mit Gelb, Rot, Schwarz, Blau und Grau (1920) geht. In eindringlichen Beschreibungen kann Heßeler nun mit Schelling den Übergang von der tautologischen zur indifferenten Bildeinheit explizieren, die in einer Konvergenz zu Schellings Theorie-Epizentrum begonnen und auch beendet wird. Was von Heßeler bei Schelling als echte Alternative zur Schau des Absoluten ins Feld geführt wird, eben die indifferente Einheit als Ergebnis eines infiniten Regresses der Anschauung zwischen De- und Rekonstruktion von Welt und Ich, sieht sich jetzt in Mondrians Werk wiederholt. Der Künstler erfüllt Schellings Anforderungen, bringt also im Werk von 1920 die titelgebende "grundlose Gestaltung" zustande.
Im Ausblick spricht Heßeler über die Anschlussfähigkeit seiner Methode für die Werke anderer Künstler. Wichtig erscheint jedoch, darauf hinzuweisen, wie stark Schellings Konzept der ästhetischen Anschauung indirekt auf eine kunsthistorische Theorietradition verweist, nämlich die phänomenologisch orientierte Bildphilosophie. Inspiriert von Husserls Epoché, also dem Gedanken, vor die Erfahrung und Tradition zurückzugehen, wird das primordiale oder sehende Sehen zum Ausweis einer "Meta-Physik" des Bildes. Darin könnte Schellings Anschauungsbegriff in Zukunft eingegliedert werden, der sich freilich noch stark davon unterscheidet. Gleichwohl erscheint in Heßelers Lesart von Schellings System ein wichtiger Vorläufer der modernen Bildphilosophie, die besonders im selbstreflexiven Bildraum den Schlüssel für die Kunst des 20. Jahrhunderts erkennt.
Zuletzt schließen sich Fragen nach der Qualität an. Kann der Künstler nur noch als Erfüllungsgehilfe des Philosophen den höchsten Ansprüchen genügen? Oder ist gerade mit Heßelers Methodik über Schelling ein profundes Werturteil möglich, das sonst so häufig vom Fach Kunstgeschichte geschmäht wird? Ganze fünf Abbildungen genügen Heßeler, um sein Anliegen hervorzubringen, was nicht nur im bescheidenen Kleinhalten des Gegenstandsbereichs begründet liegt. Wesentlich liegt die Qualität dieser Arbeit in ihrer überaus plastischen Sprache, die es dem Leser jederzeit leicht macht, den Gedankengängen zu folgen. Besonders den Kunsthistorikern ist diese Monografie zu Schelling und Mondrian empfohlen. Sie verdient mehr Aufmerksamkeit im Fach, weil sie erlaubt, über die Bilderfragen und die Abstraktion im 20. Jahrhundert nachzudenken.
Anmerkungen:
[1] Regine Prange: Das ikonoklastische Bild, Paderborn 2006.
[2] Schellings konkrete Beschäftigung mit der Kunst und der Kunstgeschichte wird seit einigen Jahren in einer verdienstvollen Münchner Schriftenreihe (Konstellationen) zusammengetragen, in die auch die vorliegende Arbeit Aufnahme fand. Vgl. als Ausgangspunkt Arne Zerbst: Schelling und die bildende Kunst: zum Verhältnis von kunstphilosophischem System und konkreter Werkkenntnis, Paderborn 2011.
[3] Das Schaffen eines unvordenklichen Grundes verstanden als Welt- und Selbstrücknahme erweist sich letztlich als Ausgangspunkt für die moderne, nachidealistische Philosophie, anschlussfähig bis Husserl und Heidegger.
Christian Drobe