Roman Köster: Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945 - 1990, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 438 S., ISBN 978-3-525-31720-4, EUR 65,00
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Deutschland gilt als Recycling-Weltmeister. Das Bild von den umweltbewegten Deutschen, die ihre Abfälle liebevoll-penibel nach Wertstoffkategorien trennen und in einer Myriade bunter Tonnen sammeln, gehört zu den beliebtesten Klischees rund um das Deutschland der Gegenwart. Und dies nicht zu Unrecht, besitzt die Bundesrepublik doch derzeit mit 66 Prozent die höchste Recyclingquote Europas. Bei näherem Hinsehen erweist sich die deutsche Müllbilanz allerdings als weniger rosig: Seit der Einführung des Dualen Systems im Jahr 1991 haben sich die Plastikabfälle von 1,6 auf 3,1 Millionen Tonnen fast verdoppelt, große Teile des Haus- und Industriemülls werden verbrannt oder in andere Länder exportiert. [1] Die Frage, wie sich Abfälle möglichst unschädlich für Mensch und Natur beseitigen lassen, gehört nicht nur zu den wichtigsten Umweltproblemen der Gegenwart. Sie wurde, wie Roman Köster in seinem Buch zur Geschichte des Hausmülls in Westdeutschland zwischen 1945 und 1990 zeigt, in der Vergangenheit ebenfalls lebhaft diskutiert - und zum Teil höchst unterschiedlich beantwortet, mit Langzeitwirkungen bis in die Gegenwart hinein.
Kösters 2015 von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität der Bundeswehr in München akzeptierte und 2017 bei Vandenhoeck & Ruprecht in der Reihe "Umwelt und Gesellschaft" publizierte Habilitationsschrift demonstriert das Potential der "Müllgeschichte" für eine differenzierte Sicht auf die bundesdeutsche (Konsum)Gesellschaft. Köster rekonstruiert am Beispiel von Frankfurt, Dortmund und Mannheim, wie sich die westdeutsche Abfallwirtschaft mit ihren Institutionen, Praktiken und Semantiken zwischen 1945 und 1990 entwickelte. Basierend auf einer Auswertung zahlreicher Stadtarchive und Dokumente der Entsorgungsunternehmen geht Köster einerseits den Ursachen für die steigenden Müllmengen und den technisch-administrativen Reaktionen und Maßnahmen, andererseits dem (praktischen wie diskursiven) gesellschaftlichen Umgang mit (Haus)Müll nach - ein bislang vernachlässigter Aspekt in der Geschichte der Konsumgesellschaft. [2] Der Aufbau des Buches zeichnet den "Produktionslebenszyklus" (22) des Hausmülls nach, von der Herstellung über Sammlung und Entsorgung bis zur Wiederverwertung. Diese Gliederung ist ebenso aufschlussreich wie elegant, denn so erschließen sich zum einen die Arbeitsabläufe der Abfallwirtschaft, zum andere gibt die Darstellung aber auch die chronologische Abfolge der Problemlagen und Diskurse wieder. Hierfür greift Köster zeitlich bis zur Entstehung des städtehygienischen Diskurses und zur Einführung meist kommunal organisierter Müllabfuhren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zurück.
Trotzdem es bereits in den 1920er und 30er Jahren zu einer durchgreifenden Rationalisierung der Abfallsammlung gekommen war, stieß das System angesichts wachsender Abfallmengen in der Nachkriegszeit bald an seine Grenzen. Virulent war zunächst die Frage einer möglichst effektiven und umfassenden Sammlung des Hausmülls. Die Abfallwirtschaft litt nach dem 2. Weltkrieg zum einen unter Geräteverlusten und Arbeitskräftemangel. Die Tätigkeit der Müllmänner war körperlich belastend und wenig prestigereich. So konnte eine 110-Liter-Standardtonne bei hohem Ascheanteil bis zu 85 Kilogramm wiegen (134). Arbeitsunfälle waren an der Tagesordnung. Hinzu kam, dass die Abfallwirtschaft seit den 1950er Jahren immer größere Einsatzgebiete und Müllmengen bewältigen musste. Die Kommunen reagierten auf diese Herausforderungen mit neuen Arbeitsroutinen sowie technischen Lösungen wie der Einführung standardisierter Sammelgefäße wie dem Müllgroßbehälter MGB 1,1. Köster gelingt es dabei mit seinem anschaulichen, mit Quellenzitaten gewürzten Schreibstil, selbst mülltechnisch wenig versierte Leser für die Feinheiten der verschiedenen Containertypen zu interessieren.
Das zentrale dritte Kapitel der Arbeit beschäftigt sich mit Problemen der Abfallentsorgung. Die große Frage war "Deponierung oder Verbrennung?" Köster interpretiert das Ringen um adäquate Entsorgungslösungen als einen Prozess der Verwissenschaftlichung und der räumlich immer umfassenderen Koordinierung - von den logistisch oft überforderten Kommunen auf die Landes- und schließlich Bundesebene. Zentral war die Verabschiedung des Abfallbeseitigungsgesetzes 1972, das den Weg frei machte für eine grundlegende Neuordnung der Abfallwirtschaft. Im Zuge dessen wurde die Vielzahl kommunaler, zum Teil unregulierter Anlagen zunehmend durch zentrale Entsorgungsanlagen ersetzt. Mit dem wachsenden Kenntnisstand über die Risiken der Entsorgung nahmen seit den 1970er Jahren jedoch auch die gesellschaftlichen Proteste gegen Deponien und Verbrennungsanlagen zu. Abfall war damit endgültig vom Stadthygiene- zum Umweltproblem geworden.
Die "Müllopposition" favorisierte ein Recycling der Abfallstoffe. Die traditionelle Altstoffsammlung hatte in der Nachkriegszeit immer mehr an Bedeutung verloren. Ende der 1960er Jahre setzte hier mit dem wachsenden Umweltbewusstsein ein Umschwung ein. Begünstigt durch Kapazitätsprobleme der Entsorgungsanlagen und die zeitweise hohen Preise für Sekundärrohstoffe suchten kommerzielle und zivilgesellschaftliche Akteure neue Wiederverwertungsinfrastrukturen zu etablieren, scheiterten letztlich jedoch meist an der ungünstigen Preisentwicklung. Wie Köster herausarbeitet, war zur Etablierung stabiler Recyclinginfrastrukturen in den 1980er Jahren vor allem das Zusammenspiel zweier Faktoren entscheidend: die Gründung spezialisierter privater Entsorgungsunternehmen sowie ein stabiles finanzielles Engagement der Kommunen. Rein marktwirtschaftliche Lösungen stießen hier an ihre Grenzen. Trotz dieser Einschränkung ist die große Bedeutung privatwirtschaftlicher Unternehmen für und innerhalb der bundesdeutschen Abfallwirtschaft eine der Hauptthesen des Buches. Die privaten Akteure, denen Köster ein Querschnittskapitel widmet, hätten deutliche Effizienz- und Kostenvorteile gegenüber den kommunalen Stadtreinigungsämtern gehabt und auf diese Druck ausgeübt, ihre Leistungspolitik zu überdenken - bis zur Privatisierungswelle der kommunalen Stadtreinigung Mitte der 1990er Jahre, auf die Köster kursorisch im Ausblick des Buches eingeht.
Kösters Studie hat ihre großen Stärken in der kenntnisreichen Darstellung und Analyse der vielfältigen Infrastrukturen und Akteure, Praktiken und Semantiken der Abfallwirtschaft, die er in fruchtbare Beziehung zu gesellschaftlichen Diskursen und Entwicklungen setzt. Hervorzuheben ist hier das aufschlussreiche erste Kapitel zu den Produzenten des Mülls. Köster zeigt einerseits die vielfältigen Schwierigkeiten im Auswerten von quantitativen Daten zur Abfallwirtschaft, angesichts der heterogenen kommunalen Erfassungspraxis ein "Verzweiflungsgebiet für Statistiker" (28). Zum anderen setzt er sich mit einigen Großthesen zur Nachkriegsprosperität und dem Zusammenhang zwischen Wohlstand, Konsum und Abfall auseinander (z. B. Pfisters 1950er Syndrom). Köster betont die Notwendigkeit einer multifaktoriellen Betrachtungsweise. Ein systematischer Zusammenhang zwischen Konsumgesellschaft und steigenden Abfallmengen könne hergestellt werden, die Zunahme der Haushaltseinkommen sei als alleiniger Erklärungsfaktor aber nicht ausreichend. Neben der allgemeinen Wohlstandssteigerung wären auch Aspekte wie die Selbstbedienung im Lebensmitteleinzelhandel (Zunahme des Verpackungsmülls), die Durchsetzung geschlossener Heizungssysteme (keine Verbrennung von Haushaltsabfällen), neue Wohnstrukturen oder die veränderte Materialität der Abfälle (sinkende organische und stark steigende Plastikanteile) zu berücksichtigen. Die Einbettung der Müllthematik in breitere gesellschaftliche Entwicklungen und geschichtswissenschaftliche Diskurse ist hier besonders gelungen.
Im Hauptteil der Arbeit überwiegt eher die Analyse des empirisch überaus reichhaltigen Materials. Eine noch stärkere theoretische Reflexion der empirischen Ergebnisse wäre hier vielversprechend gewesen - etwa hinsichtlich eines neuen Blicks auf das in der Einleitung angesprochene Konzept der "Large Technological Systems" (Hughes) oder die Rolle der Bürger für die Entstehung "inverser" (Recycling)Infrastrukturen. [3] Auch eine stärkere Differenzierung nach sozialen Kategorien und Akteuren - vor allem die Genderdimension der Müllproblematik - wäre wünschenswert gewesen. Zu pauschal ist oft (nur) von "Hausfrauen" als den wegwerfenden Subjekten die Rede. Als weiterer Punkt auf der Wunschliste hätte eine stärkere transnationale Einordnung der empirischen Ergebnisse zu Westdeutschland weitere Erkenntnisse versprochen. Wie lässt sich der bundesdeutsche Weg der Abfallwirtschaft im internationalen Vergleich verorten - auch mit Blick auf das sozialistische deutsche Nachbarland? Welche Ansätze, Akteure und Müllmengen zirkulierten hier? Müllexporte als (potentieller) weiterer Weg der Entsorgung werden im Buch nur gestreift. Trotz dieser kleineren Kritikpunkte liest man Kösters Studie mit großem Gewinn. Das Buch zeigt nicht nur die Bedeutung des (Haus)Mülls als Teil und Kehrseite der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Es demonstriert auch die analytischen Potentiale einer Verbindung wirtschafts- und umweltgeschichtlicher Fragestellungen - ein Zugriff, der bislang erst von wenigen Studien gewagt wurde und hoffentlich zahlreiche Nachfolger finden wird.
Anmerkungen:
[1] Z. B.: Caroline Wahnbaeck: Recycled, verbrannt und exportiert. Wo landet unser Müll? In: Utopia, 22.6.2018, https://utopia.de/ratgeber/recycling-verbrannen-und-exportieren-wo-landet-unser-muell/ (zuletzt aufgerufen 3.8.2018).
[2] Zur bundesdeutschen Abfallgeschichte siehe weiter: Sonja Windmüller: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliche Probleme. Berlin u.a. 2004; Andrea Westermann: Plastik und politische Kultur in Westdeutschland. Zürich 2004; Ruth Odenziel / Heike Weber (eds.): Recycling and Re-use in the Twentieth Century. Special Issue Contemporary European History 22/3 (2013).
[3] Frida De Jong / Karel Mulder: Citizen-Driven Collection of Waste Paper (1945-2010). A Government-Sustained Inverse Infrastructure, in: Tineke M. Egyedi / Donna C. Mehos (eds.): Inverse Infructures. Disrupting Networks from Below. Cheltenham / Northampton 2012.
Ute Hasenöhrl