Elina Gertsman: Worlds Within. Opening the Medieval Shrine Madonna, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press 2015, XVIII + 268 S., 48 Farb-, 106 s/w-Abb., ISBN 978-0-271-06401-7, EUR 56,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Torsten Hoffmann / Gabriele Rippl (Hgg.): Bilder. Ein (neues) Leitmedium?, Göttingen: Wallstein 2006
Lynn F. Jacobs: Opening Doors. The Early Netherlandish Triptych Reinterpreted, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2012
Ariane Mensger: Jan Gossaert. Die niederländische Kunst zu Beginn der Neuzeit, 2002
Schreinmadonnen, also Marienfiguren, deren Körper sich mit Flügeln öffnen lassen und dann weitere Bilder in ihrem Inneren preisgeben, eignet ein hohes Maß an Alterität, aber auch ein gewisser Symptomcharakter. Sie verraten gerade aufgrund der problematischen Öffnung und Verfremdung des Körpers sowie der oft brüchigen Verbindung mehrerer ikonografischer Motive, dass sich dringliche Darstellungswünsche gegen den Widerstand einfacherer und das Decorum wahrender Lösungen durchgesetzt haben. Deshalb wohl fanden Schreinmadonnen so gerne illustrative Verwendung als symptomatischer Beleg einer historischen Konstellation oder Tendenz, z.B. der Geschlechter- oder Religionsgeschichte, ohne dass man ihnen viel Text hätte widmen müssen. Eine einzige, in ihrer Gründlichkeit und soliden religionsgeschichtlichen Kontextualisierung nach wie vor lobenswerte Grundlagenstudie mit Katalogteil, die Dissertation von Gudrun Radler [1], reichte als zentrale Referenz lange aus. In den letzten Jahren hat sich aus verschiedenen Richtungen neues Interesse auf derartige Skulpturen gerichtet, was nun in zwei amerikanischen Dissertationen mündete. Während das Manuskript von Melissa Katz sich auf die spanischen Schreinmadonnen beschränkt [2], zielt die preisgekrönte Studie von Elina Gertsman auf alle Schreinmadonnen, auf das Phänomen per se.
Der Unterschied zu Radlers traditioneller Herangehensweise besteht darin, dass Gertsman die Figuren nicht einzeln durchgeht, sondern mit einem sehr breiten interdisziplinären Blick zu kontextualisieren versucht. Es gibt keine Analyse einzelner Figuren, auf die man gezielt, etwa durch Kapitelüberschriften oder Zusammenfassung in thematische Gruppen, zugreifen könnte. Letztlich geht es in den vier Hauptkapiteln mehr um die allgemeinen Diskurse und Praktiken, die sich in den Figuren kreuzen, als um diese selbst - mehr um spätmittelalterliches Rezeptionsverhalten allgemein als um intendierte Sinngehalte, mehr um bestimmte Qualitäten devotionaler Bilder als um einzelne Objekte mit ihrer spezifischen Ästhetik und Ikonografie, auch wenn insbesondere den Schreinmadonnen aus New York, Morlaix und Quelven durchaus genauere, zum Teil mehrfach ansetzende Analysen des Bildprogramms zuteilwerden.
Im ersten Kapitel wird noch am meisten auf theologisch-ikonografische Aspekte, auf in den Figuren verknüpfte Metaphoriken und damit auch auf Vorarbeiten zurückgegriffen, während es hauptsächlich darum geht, die heilsvermittelnde Dialektik von (zerlegendem) Öffnen und Entzug herauszuarbeiten, die die Figuren prägt und die den Gläubigen einen gefühlten synästhetischen Zugriff auf das Heilige suggeriert, indem sie diese in eine privilegierte Rezeptionsposition versetzt. Im zweiten Kapitel dominieren Überlegungen zur somatosensorischen Wahrnehmung der Körperöffnung als gewaltsame Öffnung / Geburt und deren Verhältnis zu "ruptures" auch auf Ebene der Semantik des monströsen Hybridkörpers. Gynäkologisch-anatomisches Wissen und theologische Metaphorik erweisen sich dabei als spannungsreich verschwistert.
Gewinnen die Figuren hier Profil als in sich Handlungen austragende Bildwerke, so zielt das dritte Kapitel hauptsächlich auf deren performative Einbindung in 'Spiele' paraliturgischer bis individuell-andächtiger Natur, die sich, wie im vorherigen Kapitel auch, in korrespondierenden Aktivierungen der Betrachtendenkörper spiegeln und Licht auf den Komplex der Animation sakraler Bilder werfen. Auf Grundlage neurowissenschaftlicher Forschung (Stichwort: Spiegelneurone) sieht Gertsman die Grenzen zwischen tatsächlicher Handhabung der Figuren und reiner Zeugenschaft eines solchen Vorgangs als poröser an, als dies in der klassischen kunsthistorischen Herangehensweise der Fall ist. Ihr Standpunkt mag radikal sein, gibt aber wichtige Impulse für weitere Debatten. Einen sehr aufschlussreichen kontextuellen Zusammenhang im engsten Sinne eröffnet die Autorin hier mit ihrer gelungenen Zusammenschau der stark fragmentierten Schreinmadonna von Hattula (Finnland) mit den sie umgebenden Fresken. Die sonstigen Überlegungen zur performativen Instrumentalisierung der Figuren, bis hin zu einer Art Marionettenspiel, sind geprägt von den wenigen der Forschung bereits bekannten Quellen und vielen Konjekturen und Übertragungen - ein Problem, das sich überall stellt, wo es um den spätmittelalterlichen Umgang mit klappbaren Bildträgern geht. Gertsman holt hier das Mögliche aus Objektbefunden und Quellen heraus und kann dabei neues Licht auf bestimmte materielle und ikonografische Details werfen.
Im vierten Kapitel werden die Mnemotechnik mit ihren Strategien der Bildgestaltung und ihrem Konzept innerer (geprägter) Bilder, die sinnstiftende Zuschauerleistung bei Passionsspielen und das Konzept der realen wie virtuellen Pilgerschaft mit Schreinmadonnen, besonders jener in Quelven, die in einem Wallfahrtskontext stand, in Verbindung gebracht.
Die Darstellungsabsichten bzw. theologischen Konzeptualisierungsleistungen, welche die Figuren prägen, werden insgesamt eher lose verbunden mit den funktionalen Aspekten angeführt. Es zeichnet sich die Linie ab, das Unheimliche, die Befremdlichkeiten und widersprüchlichen Facetten in der Wahrnehmung solcher "sacred monster" (12) herauszuarbeiten und mittels aktueller Forschung, insbesondere zu synästhetischem, somatisch und affektiv stimulierendem Sehen und zu Spiel bzw. Simulation, aber auch mittels einer Darlegung zahlloser Parallelphänomene und breit gefächerter zeitgenössischer Quellen als für die religiöse Erfahrung hoch funktional und damit letztlich als gesuchte Effekte zu bestimmen. Doch mittels der Stärkung des Konzepts 'Maria als vorbildlicher Spiegel' und kausaler Verknüpfungen der Bildebenen, etwa von innerer Gottesgeburt und meditativer Praxis, hätte man die so überzeugend rekonstruierte Instrumentalität der Figuren und die Botschaften der Bildprogramme organischer verbinden können. Dazu allerdings wäre eine umfassendere Beschäftigung mit Bildern und Ästhetik konkreter Figuren hilfreich gewesen. Symptomatisch ist dagegen die von mnemotechnischen Erwägungen ausgehende Feststellung, dass die oft nicht chronologische Anordnung von Szenen im inneren Bildprogramm eine produktive Unordnung darstellten (163), was folgerichtig von der Rekonstruktion eines eventuellen Programms entlastet.
In dem Bemühen, inhaltliche "Schließungen" zu minimieren (9, 13) und dabei Grenzziehungen zwischen Denotation und Konnotation aufzubrechen, scheinen sich zudem unter der Hand neue Denotationen zu verfestigen, die stark von den beigezogenen Theoremen und Wissensbeständen geprägt sind. Am auffälligsten ist dies im Zusammenhang mit der Gynäkologie und Anatomie, der etwa Melissa Katz jegliche Relevanz zum Verständnis der Figuren abspricht. [3] Das scheint unwahrscheinlich, doch Gertsman propagiert eine radikale Gegenposition: Die Öffnung müsse trotz aller möglichen theologischen Alternativen selbst von Männern als traumabesetzte Geburt wahrgenommen worden sein, so dominant, dass sogar Zelebranten, die mit der Figur hantierten, davon erfasst und in die Rolle von "midwives" gerutscht seien (77, 142). Eine vergleichbare vom jeweils beigezogenen Kontext / den Theorien ausgehende Unwucht erfasst gelegentlich auch die Detailanalyse: Die aufmerksam nachverfolgten Zeigegesten in der New Yorker Schreinmadonna, die auf eine eucharistische Szene zuführen, scheinen für Gertsman offenbar vorrangig der Absicht zu dienen, die Körper der Betrachtenden zu aktivieren (174). Mehr, vom jeweiligen Argument unabhängige Bildanalysen würden auch vor dem Eindruck schützen, der durch die dominierende Rede von "der Schreinmadonna" entsteht, dass nämlich die Einsichten, die vor allem an Figuren mit narrativen Szenen plausibilisiert werden, für alle so unterschiedlichen Spielarten der mittelalterlichen Schreinmadonna im Prinzip denselben Erklärungswert hätten.
Es stellt eine der nachhaltigsten Leistungen des Buches dar, neurowissenschaftliche Zugänge zur Somatik und Synästhetik visueller Wahrnehmung produktiv mit mittelalterlicher Seh- und Frömmigkeitstheorie sowie mit vormodernen mnemotechnischen Standards zu verbinden. Gleiches gilt etwa für Ansätze der Performance-Theorie, die materialreich mit tatsächlichen Praktiken im devotionalen Umgang mit Bildwerken abgeglichen werden. Dabei kann Gertsman auf stupende, fachübergreifende Kenntnisse aktueller mediävistischer Forschung zurückgreifen und es gelingt ihr auch, die Relevanz der breit dargelegten Theoreme, Wissensbestände und Frömmigkeitsformen für das Verständnis der Schreinmadonnen zu erhellen. Der Wert dieser Ausführungen führt dabei weit über die titelgebenden Bildwerke hinaus - vielleicht sogar ein wenig schnell. Wer ein Interesse an konkreten Figuren, insbesondere am konzeptuellen Ineinandergreifen der verschiedenen involvierten Bildbereiche hat, muss ergänzend auf die sonstige Forschung zurückgreifen. [4] Durch die auffällige Abstinenz hinsichtlich der intendierten Inhalte wurde die Chance vergeben, ein englischsprachiges Standardwerk zu diesen Bildwerken vorzulegen. Eine höchst anregende, innovative Studie ist dieses Buch gleichwohl.
Anmerkungen:
[1] Gudrun Radler: Die Schreinmadonna "Vierge ouvrante" von den bernhardinischen Anfängen bis zur Frauenmystik im Deutschordensland. Mit beschreibendem Katalog, Frankfurt am Main 1990.
[2] Melissa Katz: Interior Motives: The Vierge Ouvrante / Triptych Virgin in Medieval and Early Modern Iberia, Ph.D. diss., Brown University 2010.
[3] Melissa Katz: Behind Closed Doors: Distributed Bodies, Hidden Interiors, and Corporeal Erasure in Vierge Ouvrante Sculpture, in: RES: Journal of Anthropology and Aesthetics 55-56 (2009), 194-221, hier 218.
[4] Vgl. dazu insbesondere Marius Rimmele: Das Triptychon als Metapher, Körper und Ort. Semantisierungen eines Bildträgers, München 2010, 107-201.
Marius Rimmele