Andreas Büttner / Birgit Kynast / Gerald Schwedler u.a. (Hgg.): Nachahmen im Mittelalter. Dimensionen - Mechanismen - Funktionen (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte; Heft 82), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 235 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50908-8, EUR 50,00
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Der vorliegende Band enthält die ersten Forschungsergebnisse des interdisziplinär arbeitenden DFG-Netzwerkes "Imitation. Mechanismen eines kulturellen Prinzips im Mittelalter". Ziel sei es, den Akt des Imitierens, dessen jeweilige Akteure, Medien, Intentionen sowie dessen kulturelle und geschichtliche Hintergründe und Praktiken als ein kulturelles Prinzip der mittelalterlichen Epoche zu verstehen sowie zu definieren. Der Band mit seinen elf Beiträgen gibt Einblick in die bisherige Arbeit der Forschergruppe und vereint vorwiegend Vorträge von zwei Netzwerktagungen, deren eine sich der Imitation als kulturelles Prinzip im Mittelalter widmete, während die zweite deren Erfolgs- und Misserfolgslogik analysierte.
In ihrem einführenden Beitrag erörtern Gerald Schwedler und Jörg Sonntag die Mechanismen des Imitierens im europäischen Mittelalter (9-25). Dabei brechen sie für das Mittelalter die pejorative Bewertung des gegenwärtigen Verständnisses von Imitation im Sinne eines Plagiats oder einer einfachen Nachahmung auf, indem sie dies als ein omnipräsentes und unabdingbares kulturelles Prinzip näherhin ausführen, dessen wissenschaftliche Erforschung bisweilen noch nicht erfolgt sei. Von diesem Desiderat ausgehend, verweisen sie auf die Intention des Netzwerkes, das interdisziplinär tragfähige Kategorien der Imitation herausarbeiten will und das Imitieren als Forschungsparadigma zu etablieren versucht (14-18). In ihrer Einführung zeigen sie einerseits, dass nicht nur die imitatio Christi, sondern auch weitere Idealfiguren aus der antiken, alt- und neutestamentlichen, christlichen, aber auch aus der natürlichen Welt zum Vorbild für Einzelne, Gruppen oder ganze Systeme wurden und verweisen andererseits darauf, dass durch die illusorische 'als-ob'-Funktion der Imitation auch moralischer, sozialer, rechtlicher, politischer, theologischer und künstlerisch-kreativer Einfluss im Sinne von Orientierungs-, Verhaltens- und Erziehungsmustern ausgeübt werden konnte, der stets zwischen Kreativität und Kulturzwang changierte (18-23). Anhand der Fallstudien sollen Dimensionen, Mechanismen und Funktionen des Imitierens exemplarisch veranschaulicht und hinsichtlich ihrer sozialstrukturierenden Dynamik innerhalb der unterschiedlichen mittelalterlichen Lebensbereiche analytisch in den Blick genommen werden.
Das erste Kapitel nimmt die Imitation in "Text und Sprache" in den Blick (27-99). Dina De Rentiis unterstreicht in ihrem Beitrag die Imitation als eine Form kulturellen Handelns, grenzt sie von den Kategorien der Intertextualität ab und plädiert aufgrund der Analyse der ciceronianischen Schrift De inventione, der Rhetorica ad Herennium und der Institutio oratoria des Quintilian für einen als "Chresiologie" (65-69) benannten Perspektivenwechsel, um die Verschriftlichung sprachlicher Äußerungen als Resultate eines spezifisch kulturell bedingten Handelns zu begreifen (27-71). Am Beispiel der Briefrhetorik in den Kanzleien der oberitalienischen Stadtkommunen des 13. Jahrhunderts veranschaulicht Florian Hartmann, wie die Imitation zur Bewältigung der explosionsartig zugenommenen Schriftlichkeit pragmatisch eingesetzt wurde (73-88). Er konzentriert sich dabei auf die ars dictaminis, die "zu einer wirkmächtigen, über ganz Europa verbreiteten und in nahezu allen spätmittelalterlichen Kanzleien geschätzten Gattung" wurde, um das Briefwesen zu professionalisieren (77). Durch die Untersuchung der Schilderung des Falls der Stadt Akkon 1291 durch die Osmanen in der Historia Sicula des Bartolomeo da Neocastro weist Jörg Schwarz eine zweifache Imitation nach (89-99): Einerseits findet sich die Imitation auf der Autorenebene, denn der Verfasser griff auf Topoi, Bilder und Erzählmuster schreibender Vorbilder zurück; andererseits vergleichen auch die Einwohner der Stadt den Einfall der Osmanen mit dem Einfall der Babylonier oder der Römer in Karthago (99).
Das zweite Kapitel widmet sich dem "Zeremoniell und Ritual", fokussiert also die imitierenden Gesten (101-151). Mit dem Vergleich der Königskrönung durch den Papst und jener ohne den Papst macht Andreas Büttner auf ein wichtiges Phänomen aufmerksam (101-133): Die Veränderung des rituellen Akteurs - im Vergleich die Kaiserkrönung von Ludwig IV. und Karl IV. zu jener Heinrichs VII., die noch mit päpstlicher Beteiligung erfolgte - bedingte eine Veränderung der rituellen Gesten und Symbole. Wie auch baulich imitiert wurde, zeigt Melanie Brunner anhand der Romimitation am Papsthof in Avignon (135-151). Alle Kapellen im Papstpalast trugen die Patrozinien der römischen Stationskirchen, sodass in Avignon die päpstliche Stationsliturgie problemlos vollzogen werden konnte. Sie spricht von der "Übertragung der Topographie Roms auf den Papstpalast in Avignon" (145).
Die dritte Sektion erörtert anhand von drei Beiträgen das Imitieren in "Gemeinschaft und Gesellschaft" (153-206). Irina Redkova zeigt am Beispiel der Exegese der augustinischen Schrift De civitate Die durch Rupert von Deutz und Bernhard von Clairvaux, wie die Vorstellung der himmlischen Stadt sowohl in architektonischer als auch in spiritueller Weise nachgeahmt wurde. Die spirituelle Selbstwahrnehmung der Zisterzienser als Bewohner der gebauten Himmelsstadt beeinflusste maßgeblich ihre Lebensform samt ihren Wertesystemen. Vernachlässigt wurde von Redkova jedoch, dass von dieser Vorstellung in erheblichem Maße auch die Liturgie beeinflusst wurde, die selbst als imitierende Handlung genutzt wurde (159-161). Über die imitatio sanctorum und über die Heiligen als "role models für geistliche Frauen des 14. und 15. Jahrhunderts" informiert Regina D. Schiewer (165-187). Ihre Untersuchung der dominikanischen Heiligenlibelli und Schwesternbücher - Legenden und Predigten beinhaltend - zeigt, dass diese primär für die liturgische Memoria gedacht waren, jedoch auch zur Nachahmung anregten. Welche imitativen Intentionen mittelalterliche Namensgebungspraktiken verfolgten, analysiert Christof Rolker, indem er zeigt, dass das vornehmste Ziel eine Erziehung zur Ähnlichkeit mit dem Namenspatron war und dies auch von geschlechterspezifischen Idealen geleitet wurde (189-206).
Die vierte Sektion zu "Kunst und Stil" besteht aus dem Beitrag von Lukas Clemens, der sich mit der Imitation stadtrömischer Sakraltopographie nördlich der Alpen beschäftigt (207-226). An den Beispielen Konstanz, Lüttich und Besanëon zeigt er die vielfältige Art und Weise, wie in diesen Städten Rom in Kunst und Architektur imitiert wurde, um die heilswirksame Gnade dieser Stadt samt ihren Reliquien vermitteln zu können. Die Untersuchung liefert wichtige Hinweise, die jedoch noch einer theologischen Vertiefung bedürfen.
Der Band verfügt über ein Ort- und Personenregister (227-231).
Sowohl die Herausgeber als auch die einzelnen Autoren demonstrieren die immense Wirkmacht der Imitation auf die verschiedensten Lebensbereiche im Mittelalter. Der gut strukturierte Band konzentriert sich in vier Sektionen auf ausgewählte Bereiche, an denen Dimensionen, Mechanismen und Funktionen des Nachahmens exemplifiziert und verdeutlicht werden. Der interdisziplinäre und neue Ansatz des DFG-Netzwerkes erscheint nicht nur konzeptionell gut überlegt, sondern erweist sich - was die ersten Ergebnisse der bisherigen Arbeit dokumentieren - für die Forschung als ertragreich und weiterführend. Dem Forschungsparadigma sowie dem Band bleibt eine konstruktive Rezeption in den unterschiedlichen Disziplinen zu wünschen.
Joachim Werz