Karl Härter: Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit (= methodica - Einführungen in die rechtshistorische Forschung; Bd. 5), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, X + 204 S., ISBN 978-3-11-037979-2, EUR 24,95
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Das Erscheinen von Einführungswerken ist immer auch ein Maßstab für die Ausdifferenzierung und Etablierung des jeweiligen Forschungsfeldes. Zur Geschichte der Kriminalität liegen aus jüngster Zeit englische Überblickswerke vor, die allerdings die deutschsprachige Forschung allenfalls sehr partiell abdecken und die spätere Neuzeit stark bevorzugen. [1] Nicht nur deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass nun eine neue Einführung in deutscher Sprache auf dem Markt ist, die sich zeitlich auf eine sehr weit - nämlich vom späten Mittelalter bis zum Ende der "Sattelzeit" - gefasste Frühe Neuzeit und räumlich auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation fokussiert. Handelt es sich in diesen Hinsichten also um eine bewusste raumzeitliche Engführung, so greift das Buch methodisch weiter aus als andere, indem es Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte thematisiert. Das ist nur vordergründig trivial: Zwar würde prinzipiell niemand leugnen wollen, dass eine Geschichte der Kriminalität unmöglich ohne Kenntnisse der rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen geschrieben werden kann, und dass umgekehrt die Strafrechtsgeschichte zwingend einer allgemeinhistorischen Einbettung bedarf. In der Forschungspraxis allerdings haben die von Juristen betriebene Rechtsgeschichte und die sozial- und kulturhistorisch interessierte Kriminalitätsgeschichte lange miteinander gefremdelt, bis heute werfen sie sich gelegentlich gegenseitig Ignoranz vor. Vor diesem Hintergrund erscheint die Person des Autors Karl Härter als ein Glücksfall, verkörpert er doch geradezu die Möglichkeit einer Synthese beider Perspektiven: Als Allgemeinhistoriker arbeitet er seit Jahrzehnten am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt und hat dort zentrale Forschungen zur Policey, Strafjustiz und Kriminalität vorangetrieben.
Das Buch gliedert sich grob in vier Teile. Der erste enthält einen knappen Überblick zur Forschungsgeschichte beider in Rede stehenden Teildisziplinen und ein ausführlicheres konzeptuelles Kapitel. Dieses thematisiert einerseits das Alte Reich als System komplexer Rechts- und Grenzräume, dem die Forschung bisher noch nicht wirklich gerecht geworden ist; andererseits vermisst es die verschiedenen Phasen der Frühen Neuzeit als Epoche des gemeinen Rechts, nämlich von der Entstehung des öffentlichen Strafrechts im späten Mittelalter bis hin zum Übergang zum modernen Strafrecht ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Außerdem diskutiert das Kapitel zentrale Begriffe und Konzepte wie z. B. Devianz, Multinormativität oder Infrajustiz.
Der zweite und mit Abstand längste Teil des Buches ist mit "Quellen und Methoden" überschrieben. Hier wird eine weitere Eigenheit des Bandes sichtbar, seine Orientierung nämlich an den Imperativen der Reihe "methodica", die in ihrem Zuschnitt nach Auskunft der Herausgeber einer "Logik der Forschungspraxis" folgt. So sind denn auch bei Härter die methodischen Überlegungen stark auf die Quellen bezogen. Der Gang über die Höhenkämme allgemeiner methodischer Konzepte, Anschlüsse an Elias oder Foucault, wie sie z.B. die oben zitierte Einführung Kneppers gesucht hat, werden nur en passant unternommen. Das ist kein Schaden, denn stattdessen entfaltet Härter sehr systematisch das gesamte Panorama einschlägiger Quellen, diskutiert Auswertungsmethoden und zeigt Auswertungsbeispiele auf. Damit erfüllt das Buch für die künftige Forschung tatsächlich eine wichtige Orientierungsfunktion. Das Spektrum der Quellen reicht vom vielgestaltigen Kosmos der strafrechtlichen Normen (den Ordnungen, den Policeygesetzen sowie den Werken der Strafrechtswissenschaft) über die Akten der Rechtspraxis (Gerichtsbücher, Verhör- und Zeugenprotokolle, Rechtsgutachten, Urteile, Bittschriften, Justizverwaltung) bis hin zu den gedruckten Medien wie Fahndungslisten, aktenmäßigen Berichten, der Flugpublizistik, Criminalgeschichten und Fallsammlungen. Eher knapp gehalten ist schließlich ein dritter Teil mit Überlegungen zu Forschungsproblemen und zu künftigen Forschungsperspektiven. Eine umfassende Bibliografie und ein Register beschließen das Buch.
Es ist zu hoffen, dass der Band nicht zuletzt einer gegenseitigen Kenntnisnahme der beiden Teildisziplinen dient. Freilich steht die Rechtsgeschichte, insbesondere die Strafrechtsgeschichte, (nicht nur) in Deutschland schon längst auf der roten Liste bedrohter Arten. Dass auch und gerade die historische Kriminalitätsforschung dieses drohende Wegbrechen eines manchmal unbequemen, aber doch unabdingbaren Partners bedauern sollte, zeigen die zahlreichen Anregungen des vorliegenden Bandes, etwa in Hinsicht auf die starke Pluralität strafrechtlicher Normen, auf die Bedeutung der Strafrechtswissenschaft als normierender Kraft oder auf die Systematisierung rechtlicher Entscheidungen, um nur einige Aspekte zu nennen. Insgesamt handelt es sich um eine schlanke, aber gehaltvolle Einführung. Sie hat nicht den Anspruch, alle denkbaren Aspekte abzuhandeln, aber die ausgewählten Themen behandelt sie systematisch und umsichtig. Insgesamt stellt sie einen wichtigen Baustein für weitergehende Forschungen dar.
Anmerkung:
[1] Paul Knepper: Writing the History of Crime, Bloomsbury 2016 (vgl. meine Rezension unter http://dx.doi.org/10.12946/rg26/367-369); Paul Knepper/ Anja Johansen (eds.): The Oxford Handbook of the History of Crime and Criminal Justice, New York / Oxford 2016.
Gerd Schwerhoff