Alex Aßmann: Gudrun Ensslin. Die Geschichte einer Radikalisierung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 271 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78848-1, EUR 24,90
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Gudrun Ensslin ist die letzte aus dem Gründungsquartett der Roten Armee Fraktion (RAF), die erst jüngst das Interesse gleich zweier Biografen gefunden hat. [1] Andreas Baader, Horst Mahler und Ulrike Meinhof wurden bereits vor längerer Zeit umfassend portraitiert. Die zuletzt erschienene Arbeit des studierten Sozialpädagogen, Soziologen, Philosophen und Erziehungswissenschaftlers Alex Aßmann wird hier rezensiert.
Dass es bei Gudrun Ensslin so lange dauerte, bis ihrem Leben umfangreiche Studien gewidmet wurden, ist merkwürdig. [2] Bereits als die RAF 1970 entstand, war zu erkennen, dass ihre Herkunft, ihre Politisierung und ihr Gang in den Untergrund besonders aufschlussreich sein würden: sie war die Tochter eines protestantischen Pastors. Von einer Antwort auf die Frage, wie sich eine Tochter "aus gutem Hause" in eine bombenwerfende Terroristen verwandelte, konnte man viel erwarten. In den linken Terrorformationen der Bundesrepublik Deutschland - RAF, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen (RZ) - tummelten sich nicht wenige Töchter und Söhne aus gehobenen Schichten. Der Schlüssel zu Ensslins Abtauchen in die Illegalität könnte das Geheimnis der Radikalisierung vieler anderer lüften. Auch heute bleiben solche Fragen und ihre Beantwortung bedeutsam. Die Faszination von Gewalt, die mit dem emanzipativen Aufbruch von 1968 auch verbunden war, wird in Rückblicken leicht überspielt.
Die Arbeit von Alex Aßmann folgt der Pfarrerstochter in elf Kapiteln. Dabei interessiert den Autor die Geschichte Ensslins leider nur bis zu ihrem Gang in die Illegalität. Ihr Terror-Training in Jordanien, die Rückkehr in die Bundesrepublik, der Aufbau der Logistik der RAF, die Bombenkampagne 1972, die Verhaftung, die Organisierung der Hungerstreiks gegen die Haftbedingungen der RAF-Häftlinge, die Erstellung einer kollektiven Propagandaschrift ("Erklärung zur Sache") und der als Mord inszenierte Selbstmord, interessieren den Autor nicht. Ihm geht es, so der Untertitel des Buches, um die "Geschichte einer Radikalisierung". Ensslins Leben als Terroristin seit 1970 sieht der Autor merkwürdigerweise nicht als Teil dieser Radikalisierung an.
Was Alex Aßmann unter dem "Prototyp einer Radikalen" (12) versteht, erläutert er im ersten Kapitel der Arbeit. Er hat seine Arbeit verfasst, da er sich, in Abgrenzung von Autoren, die Extremismus- und Totalitarismus-Theorien folgen, nicht für abweichende oder defizitäre Entwicklungen Ensslins interessiert, die möglicherweise eine Spur für ihre Entscheidung für den Untergrund legten. Im Unterschied dazu nimmt er an, dass die Entwicklung eines jeden Menschen und so auch eines Terroristen, in mehreren Schritten über verschiedene Weichenstellungen erfolgt. In jedem Lebensweg träten "Bifurkationen" (12) auf, wie Aßmann unter Verwendung eines Begriffs aus der Medizin und der Mathematik erläutert. Ein Mensch entscheidet sich an verschiedenen Weggabelungen immer wieder neu, in welche Richtung er weitergehen möchte.
Ausgehend von der These, dass sich der "Radikalisierungsprozess eines Menschen auch als Bildungsprozess rekonstruieren lässt" (18), verfolgt der Autor "Fragmente einer Kindheit" (27) Ensslins in den 1950er Jahren, wie junge Aufsteiger aus den "Fünfzigerjahren in den Sechzigern" (107) aufschlagen, die "Korrosion" (125) von Ensslins Intimbeziehung mit Bernward Vesper, ihr Leben "unter Faschisten" (149), Ensslins Weg vom "Text zur Praxis" (163), ihre Teilnahme an der linken "Bewegung" (183) in West-Berlin, ihren Weg an der Seite von Andreas Baader ins "Feuer" (203) und zuletzt ihren Sprung von "Frankfurt" über "Sizilien" in den "Sonnenaufgang" (235).
Aßmann orientiert sich in seiner Darstellung weitgehend an Gerd Koenens Klassiker zur Beziehungsgeschichte von Ensslin, Vesper und Baader und erweitert dessen Darstellung durch Rückgriff auf weitere Dokumente, die erst nach dessen Veröffentlichung zugänglich wurden. [3] Der Umfang des ausgewerteten Materials ist imponierend. An verschiedenen Stellen des Buches gelingen Milieuschilderungen, die so noch in keiner anderen Darstellung zu Ensslin zu finden waren. Jedoch kommt er der "Transformation" Gudrun Ensslins "in ein radikales Subjekt" (17) auch nicht genauer auf die Spur, als bislang schon Koenen und andere Autoren. Aßmann konstruiert die Entwicklung Ensslins als die "stufenweise Entstehung eines moralisch motivierten 'Nein'" (17), als "Aufbegehren" gegen "Muff" und "Doppelmoral" der "nachkriegsdeutschen Entenhausenkultur" (82).
Wie aber die Pfarrerstochter Ensslin sich zu einer Mörderin und, heute würde man sagen, einer politisch motivierten Selbstmordattentäterin machte, dem geht Aßmann nicht nach. Auch Ensslins Beiträge zur konzeptionellen Legitimation des Terrors, Aßmann nennt das an einer Stelle seines Buches den "Ensslin Sound" (84), analysiert er nicht intensiv. Ihre Terrorkarriere sowie die vielen von ihr zurückgewiesenen Versuche ihr auch noch nach 1970 einen Weg aus dem Terrorismus heraus zu ermöglichen, spart er dabei vollkommen aus.
Zusammenfassend lässt sich als Verdienst Aßmanns festhalten, dass er viele Quellenbestände durchgearbeitet hat, die in andere bislang vorliegende Studien oder Portraits Ensslins noch nicht eingegangen sind. Aßmann gelingen damit viele interessante, so noch nirgendwo gelesene Milieuschilderungen. Trotzdem wird das Bild, das Aßmann von Gudrun Ensslin entwirft, dadurch nicht schärfer oder runder. Noch dazu bricht der Autor seine Analyse mit ihrem Gang in die Illegalität ab. Wie aus einer Rebellion gegen Muff und Doppelmoral Ensslins Entscheidung wuchs, sich selbst zur politisch motivierten Selbstmordattentäterin zu machen, wie ein Kind aus gutem Hause sich zur Mörderin machte, bleibt dem Leser trotz des breit recherchierten und aufbereiteten Quellen-Materials weiter unerklärlich.
Anmerkungen:
[1] Ingeborg Gleichauf: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin, Stuttgart 2017 und Alex Aßmann: Gudrun Ensslin. Die Geschichte einer Radikalisierung, Paderborn 2018.
[2] Eckhard Jesse: Biographisches Portrait. Gudrun Ensslin, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie Band 29 (2017), 188-200.
[3] Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003.
Martin Jander