Rüdiger Wenzke: Wo stehen unsere Truppen? NVA und Bundeswehr in der ČSSR-Krise 1968. Mit ausgewählten Dokumenten zur militärischen Lagebeurteilung (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 26), Berlin: Ch. Links Verlag 2018, VIII + 595 S., 7 Farb-, 275 s/w-Abb., ISBN 978-3-96289-026-1, EUR 55,00
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In Würdigung des 50. Jahrestages des "Prager Frühlings" und seiner gewaltsamen Beendigung durch eine Invasion von Truppen des Warschauer Vertrages im August 1968 hat auch das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) einen voluminösen Band vorgelegt, der in zweifacher Hinsicht anders als seine Vorgänger ist. Zum einen nimmt, wie der Kommandeur des ZMSBw, Jörg Hillmann, in seinem Vorwort betont, "die Studie erstmals die Aktivitäten der Streitkräfte beider deutscher Staaten, der NVA und der Bundeswehr, eingebunden in ihre Bündnisse, in den Blick." (VII) Zum anderen wird der vergleichsweise schmale darstellende Teil durch einen - mit fast 300 Seiten - sehr umfangreichen Dokumententeil ergänzt. Letzterer gibt vor allem Einblick in die jeweiligen militärischen Lagebeurteilungen sowie die Schwerpunkte und den Duktus der Berichterstattung.
Rüdiger Wenzke, langjähriger Mitarbeiter des ZMSBw und einer der besten Kenner der DDR-Militärgeschichte, möchte mit seinem aktuellen Buch "eigene sowie neue nationale und internationale Forschungsergebnisse zusammenfassen und in kompakter Form vermitteln." (8) Dementsprechend wird neben der NVA nun auch die Rolle der "sozialistischen Bruderarmeen" sowie - gleichsam auf der Gegenseite - von NATO und Bundeswehr in den Blick genommen.
Der darstellende Teil gliedert sich in vier Kapitel und eine tabellarische "Synopse militärisch und militärpolitisch relevanter Ereignisse und Handlungen" zwischen dem 20. August und dem 21. Oktober 1968 (195). Rüdiger Wenzke wendet sich im ersten Kapitel der Einordnung des "Prager Frühlings" im nationalen und internationalen Kontext zu. Anschaulich zeigt er, wie die Idee eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" eine Dynamik in Gang setzte, die bei den kommunistischen Hardlinern in der ČSSR, aber vor allem in den "Bruderstaaten" die Furcht vor einer schleichenden "Konterrevolution" aufkommen ließ. Grau unterlegte Infokästen mit biografischen Hintergrundinformationen helfen dabei, die im Text genannten Akteure einzuordnen. Fehlerhafte Angaben bleiben dabei aber nicht aus, wie etwa bei den Lebensdaten von Alexander Dubček.
Im zweiten Kapitel werden die Vorbereitungen der militärischen Intervention erörtert. Dabei spielte das im Juni/Juli 1968 stattfindende Manöver "Šumava" (Böhmerwald) zusammen mit einer ganzen Serie kleinerer Übungen eine wesentliche Rolle. Die Manövertätigkeit diente nicht allein als Machtdemonstration gegenüber den "konterrevolutionären" Kräften (45), sondern fungierte zugleich als Probelauf für die Invasion. Jene Stäbe und Verbände, die später an der Invasion teilnehmen sollten, konnten sich so bereits im Vorfeld mit der Geografie ihrer späteren Einsatzgebiete bekannt machen. Zugleich dienten die Übungen als Deckmantel für Truppenverlegungen in die Nähe der tschechoslowakischen Grenze.
Der westlichen Aufklärung blieben die Vorbereitungen für eine etwaige Invasion in der ČSSR nicht verborgen. In der NATO-Zentrale bei Mons erblickte man darin aber keine Gefahr für den Westen - eine Einschätzung, welche wohl nicht zuletzt das Ergebnis amerikanisch-sowjetischer Konsultationen im Juli 1968 war. Unmittelbar nach Beginn der Invasion unterrichtete der sowjetische Botschafter Anatoli F. Dobrynin US-Präsident Lyndon B. Johnson über die damit verbundenen sowjetischen Absichten in der ČSSR. Gleichzeitig versicherte er, dass dadurch "die staatlichen Interessen der USA oder anderer Staaten" in keiner Weise tangiert werden sollten. Die USA und ihre westlichen Verbündeten verurteilten die Invasion zwar in offiziellen Erklärungen unverzüglich als völkerrechtswidrigen Akt, verhielten sich ansonsten aber zurückhaltend.
Das traf auch auf die Streitkräfte der NATO zu. Zwar intensivierte man die Beobachtung der Gegenseite und erhöhte im Bereich Allied Forces Central Europe (AFCENT) die Arbeitsbereitschaft der Stäbe. Auf umfangreiche Alarmierungen wurde jedoch verzichtet. Zum Teil wurden Übungen und Truppenbewegungen auch abgesagt oder in weniger grenznahe Räume verlegt, um Missverständnisse zu vermeiden. Dieser von Wenzke klar herausgearbeitete Befund steht allerdings in erkennbarer Spannung zum ersten Satz seiner Studie, wonach Europa im August 1968 am "Rand eines 'heißen' Krieges" gestanden habe (1).
Den eigentlichen Schwerpunkt der Studie bildet das dritte Kapitel. Darin schildert der Autor sehr detailliert und anschaulich den Ablauf der Operation "Donau" genannten Invasion von insgesamt 27 Divisionen der Sowjetarmee und ihrer Verbündeten. Nach Wenzkes Einschätzung ermöglichten "langfristige Vorbereitung und exakte Planung [...], die Aktion blitzartig und überraschend durchzuführen." Militärisch lief die Operation daher "im Prinzip erfolgreich" ab. Das politische Kalkül, mit der Invasion einen "gegen die Reformer gerichteten raschen politischen Umsturz zu befördern", war jedoch nicht aufgegangen (104). Das lag vor allem an der massiven Ablehnung, welche den einmarschierenden Truppen seitens der tschechoslowakischen Bevölkerung entgegenschlug. So musste man vorerst mit übergangsweisen Kompromisslösungen vorliebnehmen.
Im Mittelpunkt der Darstellung steht freilich die Rolle der NVA während der Operation "Donau". Anknüpfend an seine älteren Arbeiten belegt Wenzke detailliert, dass die DDR einerseits zwar umfangreiche, vor allem logistische Unterstützung leistete, aber andererseits keine der beiden bereitgestellten NVA-Divisionen in der ČSSR tatsächlich zum Einsatz kam. Stattdessen beschränkte sich die NVA-Präsenz in der ČSSR auf etwa 30 Stabsoffiziere und Nachrichtensoldaten des Nachrichtenregiments 2, welche beim Stab der Besatzungstruppen in Milovice mit Verbindungsaufgaben betraut waren. Gleichwohl suggerierte die SED-Propaganda, dass die NVA an der Invasion vollumfänglich beteiligt gewesen sei.
Wie Wenzke im letzten Kapitel schildert, prägte diese Darstellung auch das Lagebild der Bundeswehr. So wurden die 7. Panzer- und die 11. motorisierte Schützendivision der NVA "im Raum Karlsbad und Prag" lokalisiert. Erst Anfang September 1968 wurde erkannt, dass beide Divisionen die DDR gar nicht verlassen hatten. Zusätzlich zum aus westlicher Sicht überraschenden Zeitpunkt der Invasion verdeutlicht dieses Beispiel die zumindest bei der Bundeswehr bestehenden Schwierigkeiten, ein zutreffendes Lagebild zu erstellen.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch der Inhalt einer im Zentralkomitee der SED zusammengestellten Sammlung "westlicher Meldungen zum Einsatz der NVA in der ČSSR" vom 9. September 1968, die im Dokumententeil des Bandes wiedergegeben ist. Westdeutsche Zeitungen und Rundfunksender berichteten demnach zum Teil detailliert über vermeintliche Aufenthaltsorte und das angebliche Auftreten von NVA-Einheiten in der ČSSR. So verortete die Bild-Zeitung am 24. August 1968 zwei NVA-Divisionen "in den Räumen nördlich von Prag, Karlsbad und Pressburg" (379), während der Sender Freies Berlin vier Tage später über die angebliche NVA-Präsenz im Raum Graslitz zu berichten wusste: "Die Maßnahmen der NVA-Truppen haben [...] helle Empörung ausgelöst. Überhaupt seien die deutschen Truppen bereits durch ihr hartes Auftreten gegenüber der Bevölkerung und durch ihre Uniformen, die fast noch die gleichen wie zu Zeiten der Besetzung unter Hitler seien, bei der Bevölkerung verhasst." (383)
Insgesamt bietet der vorliegende Band eine instruktive Darstellung der militärischen Aspekte der "ČSSR-Krise" 1968 und vor allem der Rolle der beiden deutschen Armeen. Die Darstellung im Text wird dabei durch Fotografien, Infokästen, tabellarische Übersichten sowie vor allem durch eine Reihe hochwertiger Karten aus der Zeichenstelle des ZMSBw veranschaulicht.
Christian Th. Müller