Nicolas Detering: Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, 626 S., 1 Tbl., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50719-0, EUR 90,00
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Nicolas Detering ist Juniorprofessor für "Neuere Deutsche Literatur im europäischen Kontext" an der Universität Konstanz. Er studierte an den Universitäten Bremen, Wien, Oxford und Freiburg und lehrte als Gastdozent unter anderem in St. Petersburg, Riga und Shanghai. Im Januar 2019 übernahm er eine der drei Leitungspositionen des neuen kulturwissenschaftlichen Zentrums "Kulturen Europas in einer multipolaren Weltordnung" in Konstanz. Dies sei nicht grundlos vorausgeschickt, weil es den Verfasser der hier zu besprechenden Monographie als einen engagierten Forscher charakterisiert, der sich konsequent mit Themen beschäftigt, die zwar im Mainstream der "Europa-Forschung" immer aktuell bleiben -, und doch Gefahr laufen, politisch überholt zu werden.
Die Perspektive des über Jahrhunderte hinweg als das Zentrum der Welt geltenden Europa, die für die historische Forschung erst für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte nicht mehr zu gelten, wurde erstaunlicherweise für die Forschung über die Literaturgeschichte nicht wirklich wahrgenommen. Detering geht in seiner Einleitung zu den Anfängen dieser Perspektive zurück, die für die "deutsche" Europaliteratur - seiner Auffassung nach - in der Frühen Neuzeit begann.
Diese These belegt Detering mit dem Forschungsstand der historischen, kulturhistorischen sowie politikwissenschaftlichen Forschung (14) und stellt fest, dass obwohl "die Ideen-, Politik- und Kulturgeschichte das frühneuzeitliche Europabewusstsein (...) in mehreren Beiträgen adressiert, es aber weder monographisch erschöpfend behandelt noch die Bedeutung der poetischen Literatur hinreichend berücksichtigt" (15). Daraus leitet er eine Forschungslücke ab, die es nun zu schließen gelte.
Was dann folgt, ist ein breit aufgefächertes, mit - literarischen und publizistischen (wobei publizistisch sehr wohl historisch reflektiert ist) - Quellen gesättigtes Werk, dem eine klassische - wenn man etwas aussetzen müsste: fast schulisch aufgebaute - Struktur verliehen wurde. Man registriert, es ist eine 2015 als Dissertation eingereichte Arbeit und man staunt zu erfahren, sie sei für die Drucklegung noch gekürzt und überarbeitet worden. Immerhin sind es mit dem gesamten Forschungsapparat 626 Seiten.
Und dabei wurde das Korpus selbst bereits eingegrenzt: "Gegenstand der Arbeit ist die Manifestation eines frühneuzeitlichen Europabewusstseins in solchen literarischen Texten, in denen der Europabegriff besonders häufig vorkommt und die vorrangig von Europa handeln. Ausdrücklich nicht Gegenstand der Arbeit ist die Geschichte des europäischen Gemeinschaftsgefühls oder der europäischen Identität" (49). Die methodische Vorgehensweise ist dann auch schlüssig dargelegt. Detering selbst nennt sie "einen strengen 'Nominalismus'" (49), der helfen solle, die literatur- von der ideengeschichtlichen "Europäistik" zu unterscheiden.
Folgt man der Einleitung weiter, was dem Leser dringend empfohlen wird - sonst läuft man Gefahr, sich im Text zu verlaufen -, erfährt man einiges zu Thesen und Aufbau des Buches. Es besteht aus drei Hauptteilen, die "nicht streng taxonomisch angelegt [sind], sondern (...) Gattungsmerkmale mit Deutungsaspekten in einem breitflächigen chronologischen Arrangement" verknüpfen (51). Nichtsdestoweniger widmet sich der erste Teil (91-201) der "'medialen Gattung' (den Periodika, den Serienchroniken und der Flugpublizistik (...) und analysiert die Verjetzigung des Europabewusstseins im frühneuzeitlichen Nachrichtenwesen zwischen 1590 und etwa 1670" (50/51). Im zweiten Teil (202-357) kommt die Europa-Allegorie zur Sprache: "in der Flugpublizistik, dem Drama und dem Gedicht" (51). Im dritten Teil (359-543) wird "die perspektivische Kulturalisierung des Europa-Begriffs im deutschen Roman skizziert" (51). Stellvertretend werden Romane von Grimmelshausen, Eberhard Werner Happel, Erasmus Francisci, David Faßmann und Johann Gottfried Schnabel analysiert unter dem Aspekt des Europa-Narrativs, der europäischen Perspektive im Sinn des sich entwickelnden Europa-Selbstverständnisses und letztlich auch der kulturellen Abgrenzung. Es sind klug gewählte Themenbereiche, in denen sich die gesamte Komplexität der "Literatur" zeigt: ihrer europabezogenen Sujets ebenso wie rhetorischer Konvention oder der Kunst des Ausdrucks wie auch der Vermischung der Genres. Am Ende jeden Teils werden thesenhaft die Erkenntnisse zusammengefasst. Das trägt sicherlich zur Lesbarkeit des Buches bei. Es ist nicht notwendig, aber nützlich. Ebenfalls nicht notwendig, jedoch sinnvoll sind die thematischen Hinweise an den Seitenrändern. Das verleiht dem Werk einen Lehrbuch-Charakter, was in dem Fall jedoch "passt". Was irritiert, ist eine Doppelung des Inhaltsverzeichnisses, aufgeteilt in Inhaltsübersicht und Inhalt, der seinerseits eine ausführlichere Version der Inhaltsübersicht ist (sic!).
Um es zu wiederholen: "das gegenwärtig-politische Europa und die Zeitgeschichte (1589-1674), das plural-zwieträchtige Europa und die Allegorie (1631-1725) [und], das kulturelle Europa und der Roman (1668-1743)" (51/52) lassen ein Kontinuum der Begriffe und Deutungen entstehen, die deutlich auf einen dynamischen Prozess innerhalb der deutschen "Europa-Literatur" hindeuten. Insofern unterscheiden sich diese philologischen Befunde nicht von denen in der Geschichtsschreibung, der Politikwissenschaft bzw. Kulturgeschichte. Sie bereichern aber auf jeden Fall das Bild des Europa-Verständnisses in der Frühen Neuzeit.
Und trotzdem hadert die Rezensentin mit dem Buch. Nicht dass mir die Würdigung des Werkes schwerfällt. Im Gegenteil: Es ist ein Buch für Liebhaber und Enthusiasten. Diejenigen, die eine Wissenslücke schließen möchten (und wozu werden denn schließlich Fachbücher geschrieben?), werden sich indes schwertun. Es ist ein Buch für Gleichgesinnte. Mir hat es Spaß gemacht, in den Mäandern der Heuristik zu schmökern und das Gottsched'sche Lob auf das Ableben Peters I. (552-559), ein spätes Paradebeispiel einer rhetorisch schön aufgebauten Fingerübung, zu lesen. Und ich begebe mich jetzt bewusst auf eine wenig wissenschaftliche Ebene: für einen "nur" interessierten Leser ist dieses Buch mit einem sperrigen und wenig aussagekräftigen Titel "Krise und Kontinent" eine Herausforderung - und ich fürchte, wenige werden sich auf dieses Abenteuer einlassen. Ich lasse mich aber gerne belehren und würde mich - vor allem für das Fach "Germanistik" - über ein breites Echo und rege Rezeption dieses (sehr wohl im frühneuzeitlichen Sinn) gelehrten Buches freuen.
Małgorzata Morawiec