Thomas Buomberger: Die Schweiz im Kalten Krieg. 1945-1990, Baden: hier + jetzt. Verlag für Kultur und Geschichte 2017, 419 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-03919-390-5, EUR 44,00
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Die Schweiz war der Inbegriff der wehrhaften Neutralität im Zeitalter der Blockkonfrontation. Hinter sorgsam bewachten Grenzen verbarg sich eine in jeder Hinsicht verteidigungswillige Demokratie, mit zahllosen Bunkern - entlang der Grenzen oder im Landesinneren. Das ganze Volk war in der Miliz erfasst, und jeder Milizionär hatte sein Sturmgewehr zu Hause; ein Volk in Waffen also. Steinerner Inbegriff dieser Verteidigungsbereitschaft war das Reduit im Gotthard-Massiv, das die letzte Bastion helvetischer Unabhängigkeit hätte sein können und noch bis in die 1980er Jahre erweitert wurde. Heute sind die meisten Bunker ihres eigentlichen Zwecks entkleidet, man kann sie besichtigen. Sie haben ihre militärische Bedeutung und damit jeglichen Wert nach dem Ende des Kalten Krieges verloren. Und dennoch zeichnen sie ein Land, in dem der Kalte Krieg unübersehbar seine Spuren hinterlassen hat.
Hier stellt sich die Frage, ob die demokratisch regierte Schweiz, mit ihren vielfältigen Mitteln direkter Volksbeteiligung, und geographisch durch die Alpen und ihre Vorgebirge geprägt, überhaupt solche vielfältigen und teuren Verteidigungsbemühungen anstellen musste. Hatte sie doch im 19. und 20. Jahrhundert zwar Scharmützel, aber keinen Krieg als Flächenbrand in ihrem Land erlebt. Sie genoss im 20. Jahrhundert als neutraler Staat weltweite Anerkennung und Wertschätzung. Sie hatte in der Zwischenkriegszeit zwischen turbulenten Demokratien um sich herum und später zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland im Norden und dem faschistischen Italien im Süden erfolgreich laviert und noch mehr erfolgreiche Geschäfte mit nahezu allen gemacht, vor allem mit Hitler-Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende dieser Diktaturen musste das Land sich neu orientieren - auch das ging schnell und problemlos.
Die Schweiz lag nach 1945 - neben dem durch die zeitweilige Anwesenheit der vier Siegermächte und einen Staatsvertrag zwangsweise neutralisierten Österreich - als formal neutrale Landbrücke zwischen den NATO-Staaten Italien und Bundesrepublik Deutschland. Wie wäre es mit der Schweiz in einem potenziellen Dritten Weltkrieg gewesen, hätte sie ihre Neutralität wahren können? Hätte der Warschauer Pakt auf eine Besetzung der Schweiz möglicherweise verzichtet? Führende Kreise in der Schweiz, Militärs und Konservative auf jeden Fall, waren davon überzeugt, dass die Schweiz in einen künftigen Krieg einbezogen würde.
Gegen die damit einhergehende mögliche Machtübernahme durch Kommunisten wandte sich die Schweiz von Anbeginn. Die Überwachung aller möglichen politischen Umtriebe seitens der organisierten Arbeiterschaft - seit einigen Jahrzehnten bereits - richtete sich nunmehr gegen alle Anhänger sozialistischer und selbst sozialdemokratischer Ideen. Ihre Anhänger galten als politisch unzuverlässig. Dabei war bedeutsam, dass in Norditalien und Frankreich die Kommunisten eine durchaus bedeutende politische Kraft darstellten - mit guten Beziehungen nach Moskau. Ein "latenter bis militanter politischer Antikommunismus" war dabei nicht nur in den 1950er/60er Jahren ein "prägendes Strukturelement der mental-politischen Verfassung" der Schweiz (41).
Das zweite Strukturelement war die "geistige Landesverteidigung", der sich in der Schweiz nicht nur das Militär widmete. Dieses tat aber alles, um eine mögliche Besetzung der Schweiz durch die Rote Armee und ihre Epigonen zu verhindern. Der Anstieg des Verteidigungshaushalts - allein in den Jahren 1949 bis 1952 um mehr als 80 Prozent! - war dafür nur ein Indiz. Vielmehr noch ging mit dieser Entwicklung eine Wehrhaftmachung des Volkes einher wie auch eine Weiterentwicklung der Truppenführung und Operationsplanung, die sich eindeutig an der NATO ausrichtete (55 f.).
Dies beiden Generalthemen, Antikommunismus und Landesverteidigung, betrachtet Buomberger in zwölf Kapiteln, die einen Bogen über die Jahre zwischen 1945 und 1989 spannen. Vielfach erscheinen Einzelaspekte redundant, bei näherer Betrachtung aber wird deutlich, dass der Antikommunismus eben nicht nur in einer Bespitzelung und Ausgrenzung der Sozialisten und Arbeiter bestand, sondern gleichzeitig mit einer umfassenden Medienarbeit einherging. Die Kapitel zum Militär zeichnen nicht nur das Drängen nach Atomwaffen nach (wie andernorts auch), sondern ebenso, dass die Schweizer Streitkräfte verschiedene Versuche unternahmen, die Leistungsfähigkeit ihrer Streitkräfte auch mit paradoxen Mitteln zu erhöhen: das Streben nach Atomwaffen war nur ein Anzeichen, vielfältige Waffenentwicklungen und dann doch Importe, das andere.
Das Kapitel "Zivilschutz im Ernstfall" macht - zusammen mit dem vorangegangenen wie auch dem nachfolgenden Kapitel - deutlich, dass es im Falle des atomaren Armageddon kein Entrinnen geben kann. Dass gerade in der Schweiz der Bau privater Schutzbunker expandierte, war einerseits Beleg für eine Sucht nach Schutz. Diese Bunkersucht konnte aber nicht überdecken, dass die grundsätzliche Frage "Wie lebt man nach einem Atomkrieg"? nie beantwortet wurde. Vielmehr noch wurden kritische Bürger amtlich und weit verbreitet unter Generalverdacht gestellt: Das ab 1969 an alle Haushalte ausgelieferte Zivilverteidigungsbuch liest sich - den Schilderungen Buombergers zufolge - nicht nur wie eine Anleitung zum Überleben im bewaffneten Konflikt, inklusive Hinweisen zum Krieg im Untergrund, sondern auch wie eine Anstiftung zur Denunziation. Buomberger weist zu Recht darauf hin, dass dieses Buch im zusammenwachsenden Europa wie ein national-utopischer Anachronismus wirkte.
Besonders absurd lesen sich dann die Schilderungen zum Leben im Bunker. Angesichts angenehmer 29 Grad Celsius und natürlich ausgestattet mit ausreichend Lebensmitteln und Trinkwasser, glaubte man an ein bequemes Leben unter Tage. Die Bunkerwarte würden die Insassen zum Trinken anhalten. Loriot hat den Privatbunkerbau in den 1980er Jahren satirisch überzeichnet; vielleicht war das sogar wahr. Wenig wahrscheinlich scheint auch, dass die hohe Quote der in Bunkern unterkommenden Schweizer wussten, was sie nach dem Leben im Bunker erwartet hätte. Dass es 1958 sogar einen Wettbewerb für eingängige Parolen zum Bunkerleben gab, treibt die Verharmlosung auf die Spitze. Es galt u. a.: "Heute, morgen, jederzeit, sei Dein Notvorrat bereit!" (288). In der Bundesrepublik Deutschland dachte man da auch an Notvorräte, und in der DDR gab es "Atombrot in Büchsen".
Der Zusammenbruch des Ostblocks und das Ende der Herrschaft der kommunistischen Parteien in seinen Staaten nach 1989 schuf Unsicherheiten, Erklärungsnotstände - und sorgte für Übersprungshandlungen. Wie in anderen europäischen Staaten galt es nun, die Friedensdividende einzustreichen. Der Streitkräfteumfang und die vielfältigen Kriegs- und Überlebensvorbereitungen waren nun gegenstandslos. In Deutschland sprach Verteidigungsminister Volker Rühe davon, dass sein Land "von Freunden umzingelt sei". Auch in der Schweiz sanken die Verteidigungsausgaben von 1,5 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 1990 auf das Allzeittief von 0,6 % im Jahr 2014. Dass nun offensichtlich auch die Schweizerinnen und Schweizer eine militärkritischere Einstellung gewonnen haben, belegen die ablehnenden Volksabstimmungen zur Beschaffung von Kampfflugzeugen.
Der Historiker und Journalist Thomas Buomberger legt in seinem gut lesbaren Werk - ungeachtet des oftmals nicht ganz eingehaltenen eigenen wissenschaftlichen Anspruchs -einen grauen Schleier beinahe systematischer Schwarzseherei und Paranoia gegen alle Feinde oder auch nur Kritiker dieser Form befestigter Demokratie über die harmonische Postkartenidylle der Schweiz. Und noch mehr wird ersichtlich, dass die Schweiz als begünstigter neutraler Anrainerstaat des nationalsozialistischen Deutschland scheinbar mühelos in das Lager der antikommunistischen Welt wechseln konnte, ohne ihr jemals formal anzugehören. Das nennt man anpassungsfähig. Aber um welchen Preis?
Heiner Möllers