Rezension über:

Heidi Behrens / Norbert Reichling: "Ich war ein seltener Fall". Die deutsch-jüdisch-polnische Geschichte der Leni Zytnicka, Essen: Klartext 2018, 240 S., 63 s/w-Abb., ISBN 978-3-8375-1986-0, EUR 19,95
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Rezension von:
Angela Genger
Ratingen
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Angela Genger: Rezension von: Heidi Behrens / Norbert Reichling: "Ich war ein seltener Fall". Die deutsch-jüdisch-polnische Geschichte der Leni Zytnicka, Essen: Klartext 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 5 [15.05.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/05/32508.html


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Heidi Behrens / Norbert Reichling: "Ich war ein seltener Fall"

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Im Mai des Jahres 2000 saßen die beiden langjährigen Mitarbeiter des Bildungswerkes der Humanistischen Union und promovierten Historiker, Heidi Behrens-Cobet und Norbert Reichling - beide hatten sich zur Geschichte der Arbeiterbewegung akademisch qualifiziert, jahrelang aber auch andere Themen bearbeitet - der damals 96-jährigen Helene Zytnicka in Essen-Werden gegenüber. Die alte Dame hatte Jahrzehnte darauf gewartet, ihre Geschichte erzählen zu können. Wie jedes Leben war auch ihre Geschichte eine besondere.

In der Einleitung vermitteln die Verfasser ihr Anliegen: eine ungewöhnliche Lebensgeschichte festzuhalten. Dabei bauen sie stark auf der Erzählung der Gesprächspartnerin, sie sehen sich aber auch vor der Notwendigkeit, zu vielen Aspekten nachforschen, ergänzen und einordnen zu müssen.

Die Familie der Erzählerin ist Anfang des 20. Jahrhunderts aus Ostpreußen nach Essen zugewandert. Der Vater war Bergmann, der mit seiner Frau, mit seiner Mutter und den sechs Kindern in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Essen-Altenessen lebte. Nach dem Besuch der Evangelischen Volksschule folgte für Leni, wie Helene genannt wurde, die Handelsschule. Sie wurde Buchhalterin in einem Herrenkonfektionsgeschäft. An ihrer Arbeitsstelle lernte sie den aus Warschau stammenden David Zytnicka kennen: ein ansehnlicher Mann, den die junge Frau heiratete. Sie trat zum Judentum über und verlor durch die Heirat ihre deutsche Staatsangehörigkeit. Mit keinem Wort erwähnt die Erzählerin Einwände ihrer Familie zu ihrer Heirat und dem Übertritt zum Judentum.

David Zytnicka war Wäschevertreter. Neben seiner beruflichen Tätigkeit engagierte er sich im Verband der Ostjuden, einer zahlenmäßig starken Minderheit innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Essen (1925: 1.173 von 4.209 Juden) und dem Rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Nach Auskunft seiner Witwe sprach er Polnisch, Jiddisch und perfekt Deutsch.

Über die politischen und wirtschaftlich daraus folgenden Veränderungen der Jahre 1933 bis 1938 erfahren die Interviewer wenig. Die Erinnerungen an die ersten fünf Jahre der NS-Herrschaft traten hinter die nach dem 28.Oktober 1938 folgenden Ereignisse offensichtlich ganz zurück. Zwei Beamte in Zivil forderten an diesem Tag die Familie in ihrer Wohnung auf, umgehend mit zur Essener Feuerwache zu kommen. Im Laufe dieses Tages wurden in Essen insgesamt 461 Personen abgeholt, nicht wenige niemals in Polen ansässig gewesene Frauen und Kinder. Der Historiker Ludger Heid spricht von 40% der 17.000 Deportierten aus dem gesamten Reich. [1] Sie wurden mit ihren wenigen Habseligkeiten, die sie hatten packen oder die ihnen Gemeindemitglieder in die Sammelstelle hatten bringen können, in Personenzüge begleitet und deportiert.

Die Fahrt endete 600 Kilometer östlich von Essen an der polnischen Grenze nahe der kleinen Stadt Zbnzyn an der Eisenbahnstrecke Berlin - Warschau. Ca. 5.000 - 10.000 Personen jeden Alters strömten über die Grenze und mussten versorgt werden. Die Kleinstadt selbst hatte zu dieser Zeit gerade einmal ca. 4.000 Einwohner. Während manche Zeitzeugen, darunter auch Emanuel Ringelblum in seinem Bericht für ein jüdisches Hilfskomitee, und die internationale Presse von chaotischen und schlimmen Zuständen berichteten - es brach wohl auch Typhus aus - kam Familie Zytnicka in einer polnischen Familie unter, in der es ihr sehr gut ging. Dort blieb sie bis August 1939. David Zytnicka engagierte sich bei der von polnisch-jüdischen Organisationen eingeleiteten und durchgeführten Hilfsmaßnahmen.

Leni Zytnicka reiste im August 1939 einmal nach Essen. Von dort schmuggelte sie Geld nach Polen. Dieselbe Waghalsigkeit bewies sie auch später innerhalb Polens. Als sich die Anzeichen eines möglichen Krieges mehrten, ließen die polnischen Behörden auch die letzten Abgeschobenen von den Grenzstädten, in denen sie gestrandet waren, ins Landesinnere weiterreisen. Die Familie Zytnicka kam im August 1939 bei einem von David Zytnickas Brüdern in Warschau unter. Wenige Wochen später, am 1. Oktober, marschierten deutsche Truppen in Warschau ein. Noch im selben Monat setzten die deutschen Behörden einen Judenrat ein, der alle die Juden betreffenden Anordnungen umsetzen musste. David Zytnicka war über Familie und Freunde immer gut informiert, und als das Ghetto im Oktober/November 1940 errichtet wurde, übernahm er in der sogenannten jüdischen Selbstverwaltung schnell eine Funktion; welche dies war, erfahren wir nicht. Anders als für die überwiegende Mehrheit der 300.000 - 450.000 Personen, die im Ghetto auf 3,1 Quadratkilometer zusammengepfercht wurden, scheint es der Familie Zytnicka nicht schlecht gegangen zu sein. Mit Geld konnte man zusätzliche Nahrungsmittel kaufen und an falsche Papiere kommen. Hinzu kam der Umstand, dass Leni Zytnicka und ihre Töchter mit dem Pass ihrer Schwester, deren Mann in Warschau stationiert worden war, auf die sogenannte "arische Seite" wechselte. Sie bestach oder verwickelte Posten in Gespräche, sie trat als Deutsche auf. Als ab September 1942 Tausende vom sog. Umschlagplatz in das Vernichtungslager Treblinka gebracht wurden, war David Zytnicka nicht dabei. Ihn hatte nach Auskunft seiner Frau der Leiter des deutschen Arbeitsamtes, Dr. Friedrich Ziegler, gewarnt, und er hatte sich verstecken können, nach dem Ghettoaufstand (19. April - 16.Mai 1943) nach Auskunft seiner Frau auf der "arischen Seite". Als während des Warschauer Aufstands der Polen (1. August - 2. Oktober 1944) die Deutschen aus Warschau evakuiert wurden, war auch Leni Zytnicka mit ihrer jüngeren Tochter dabei. Die ältere Tochter Judith war zuvor als polnische Zwangsarbeiterin verpflichtet worden. Beim Verlassen ihrer Wohnung sah Leni ihren Mann zum letzten Mal. Lediglich aus einer - an die alte Adresse ihrer Eltern gerichteten - Postkarte vom 15. November 1944 erfuhr sie, dass David Zytnicka lebe. Danach gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Leni Zytnicka und ihre Tochter Henny gelangten ins sächsische Mühlberg. 1947 kehrten sie nach Essen zurück. Es folgte ein Jahrzehnte dauernder Kampf um die Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft und um Entschädigung. Diesen Prozess stellen die Verfasser zu Recht ausführlich dar.

In einem umfangreichen Nachwort wird der Band als Materialzusammenstellung für die politische Bildung charakterisiert. Dieses Anliegen erklärt die vielen den Lesern mitgeteilten Überlegungen, die die ausführlich zitierten Erzählpassagen der Zeitzeugin bei den Autoren auslösten, und ihre Erklärungsversuche. Gerade die historischen Fakten mussten, wie immer bei Zeitzeugeninterviews, auch in diesem Fall kontrolliert und auf der Basis breiter Quellenrecherchen ergänzt werden. Die minutiöse Mitteilung des Vorgehens erleichtert nicht unbedingt die Lektüre. Vielleicht hätte man, wie andere Autoren, ein lesbareres Verfahren wählen können, wie etwa Erich Hackl in seiner Heldengeschichte "Am Seil" [2] oder Annette Leo. [3] Diese beiden Veröffentlichungen basieren auch auf Zeitzeugenberichten. Sie stellen die Erzähler aber bewusst nicht in den Vordergrund, ebenso wenig wie Bart van Es, dessen Buch eines Überlebens im Versteck mit den vielen Facetten gerade auf Deutsch erschienen ist. [4]

Die von Heidi Behrens-Cobet und Norbert Reichling gewählte Form ist wohl auch der Erwartung der Zeitzeugin geschuldet, die inzwischen aber längst verstorben ist. Im Ganzen erbringen die Autoren eine bemerkenswerte Leistung besonders auf die Deportationen nach Zbnzyn, die Vorgänge in Warschau und die Nachkriegsauseinandersetzungen bezogen - ein wichtiger Beitrag zur deutsch-jüdischen-polnische Geschichte.


Anmerkungen:

[1] Ludger Heid: Ostjuden in Duisburg. Bürger, Kleinbürger, Proletarier. Geschichte einer jüdischen Minderheit im Ruhrgebiet, Essen 2011.

[2] Erich Hackl: Am Seil. Eine Heldengeschichte, Zürich 2018.

[3] Zuletzt Annette Leo: Der Junge auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie, Berlin 2018.

[4] Bart van Es: Das Mädchen mit dem Poesiealbum, Köln 2019.

Angela Genger