Peter Ackroyd: Queer London. Von der Antike bis heute. Aus dem Englischen von Sophia Lindsey, München: Penguin 2018, 272 S., 44 Farb-, 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-328-60065-7, EUR 24,00
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Wohl niemand war so berufen, wie der langjährige Times-Redakteur, Romancier, Sachbuchautor und Opernlibrettist Peter Ackroyd, eine Geschichte des queeren London zu schreiben. Er hat bereits 1979 "Transvestism and Drag, the History of an Obsession" und neben vielen anderem auch "Biografien" über London und die Themse veröffentlicht.
Das Buch beginnt mit einem aufschlussreichen Glossar, in dem Bedeutung und Geschichte von Begriffen wie "gay" und jede Menge Slangausdrücke erläutert werden. Hier erfährt man, dass "Homosexualität" lange ein der Allgemeinheit nicht vertrauter Fachausdruck war, der erst 1976 ins Oxford English Dictionary aufgenommen wurde. Der Aufbau des Werkes ist chronologisch und beginnt mit Kelten und Germanen, bei denen laut griechischen und römischen Autoren gleichgeschlechtliche männliche Sexualkontakte üblich waren. In römischer Zeit wurde Pädophilie, also Sex mit Kindern nicht verurteilt, wohl aber Sex zwischen zwei frei geborenen Männern. Dies konnte zum Verlust der Bürgerrechte führen, was natürlich nicht ausschließt, dass es gelebt wurde (18). Es gab viele Bordelle, auch für gleichgeschlechtlichen männlichen Sex. Männliche Prostituierte waren als Steuerzahler geschätzt und hatten einen eigenen Feiertag. Scipio beschrieb schon 129 v.Chr. was später eine 'Tunte' genannt wurde, einen Mann, der sich "täglich parfümiert und vor dem Spiegel ankleidet, gezupfte Brauen hat und mit gestutztem Bart und glatten Schenkeln herumstolziert" (19). Früher wurden mit Schmuck ausgestattete Gräber Frauen zugeschrieben, mittlerweile schaut man genauer hin.
Ab dem 4. Jahrhundert warf das Christentum seinen Schatten, ab dem 6. wurde gleichgeschlechtliche Sexualität kriminalisiert. Gleichzeitig diente das Verhältnis zwischen Jesus und seinem Jünger Johannes über die Zeiten hinweg als Rechtfertigung (65, 73, 114). Mit der Ankunft der Angelsachsen wurden die Sitten wieder lockerer. Gesetzesbücher des 7. Jahrhunderts führen zwar Strafen für Unzucht mit Tieren, Vergewaltigung, Ehebruch und Inzest auf, nicht aber für gleichgeschlechtlichen Sex. In kirchlichen Bußkatalogen hingegen taucht das Delikt auf und wurde mit zeitlichen Bußen belegt. Ein Knabe, der Geschlechtsverkehr mit einem geweihten Kleriker hatte, sollte 120 Tage fasten, der Erwachsene wurde nicht bestraft, da der Knabe als Verführer galt (26). Offenbar hat die Straffreiheit für dergleichen in der Kirche eine lange Tradition. Hatte ein Knabe im 12. Jahrhundert "das Alter von sieben Jahren erreicht, galt er als empfänglich für die 'Sünde wider die Natur'" (34).
Ausdrücke wie "mollis" (Weichlinge) deuten auf eine "dauerhafte sexuelle Identität hin, auf eine unterschwellige Subkultur" (27) seit der Antike. An anderer Stelle gibt es Konzessionen an heutige Theorien, wenn es heißt sexuelle Orientierungen seien "fließend" gewesen (49, 68). Doch hatte diese Subkultur über Jahrhunderte ihre eigenen Szenen mit bevorzugten Theatern, exklusiven Kneipen und Bordellen sowie Cruising-Areas. Wie noch 1968 beim Stonewall Inn in New York waren Razzien gegen einschlägige Etablissements in London seit dem frühen 18. Jahrhundert üblich, konnten aber auch durch Bestechung gelegentlich abgewendet werden. Die Betroffenen versuchten sich durch einen Code, einen Soziolekt, zu schützen. Polari war eine "bekannte und weitverbreitete Geheimsprache" [!]. Aus ihr stammte der Begriff "camp" (206). Beeindruckend ist die Zahl von gleichgeschlechtlichen Doppelgräbern (50, 88, 107). Der Begriff "wedding" wurde lange sowohl für Bündnisse zwischen Männern wie zwischen Mann und Frau verwandt (51).
Normannen und Wikinger bestraften gleichgeschlechtlichen Sex nicht, sondern denjenigen, der einen anderen der Sodomie beschuldigte. Wilhelm II., der Sohn des Eroberers "heiratete nie und hatte keine Kinder, was für einen König höchst ungewöhnlich war. Auch wenn sie ihre Frauen nicht ausstehen konnten, kamen die meisten ihrer Pflicht nach und führten ihr Geschlecht fort" (29). Die verschiedenen Orden beschuldigten sich, wie später die Konfessionen, gegenseitig der Sodomie.
Mit dem Buggery Act von 1533 wurde gleichgeschlechtliche Sexualität zum Kapitalverbrechen. Er diente als politisches Argument für die Klosteraufhebungen. Sehr bald wurde Sodomie mit Katholizismus assoziiert. Dieses Gesetz wurde wie ähnliche in anderen Teilen Europas zum Grund für ungezählte Folgeverbrechen. Erpressung wurde nun bis in die Gegenwart zu einem lukrativen Geschäftsmodell. Auch völlig tugendhafte Männer zahlten vielfach, um eine Schädigung ihres Rufes zu vermeiden. Hieran waren auch die Mitglieder der 1691 gegründeten "Society for the Reformation of Manners" beteiligt, die immer wieder attraktive Lockvögel einsetzte. Später stellten Polizisten unachtsamen Männern in Erwartung eines Schmiergeldes Fallen. Ungezählt sind die Selbstmorde von Angeklagten. Im 19. Jahrhundert bot die Flucht auf den Kontinent einen Ausweg, wenn man ihn sich leisten konnte.
Zwar häuften sich Todesstrafen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als in weiten Teilen Europas die Strafen gemildert oder abgeschafft wurden, aber die übliche Prangerstrafe kam infolge der Misshandlungen durch den Pöbel häufig einem Todesurteil gleich. Charles Skinner Matthews schrieb 1811 an Lord Byron nach Malta: "Wir müssen unseren Hals riskieren für etwas, das Du für fünf Pfund haben kannst" (187). Stabile Beziehungen gab es in allen Jahrhunderten zwischen Dienern und Herren. Für Soldaten war Prostitution bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein gewöhnlicher Nebenverdienst. Die öffentlichen Toiletten auf der 1209 fertiggestellten London Bridge dienten wie andere zuvor und danach als vielfrequentierte Treffpunkte.
Jakob I. schuf sich mit Royston, ähnlich wie später Friedrich der Große mit Sanssouci, einen homosozialen, frauenfreien Raum (71). Buckingham bezeichnete sich gegenüber dem König als dessen "Sklave und Hund". Letzteres war ein gängiges Pseudonym für Lustknabe. Der König wiederum bezeichnete den Herzog als sein "süßes Kind und Weib" (73).
In der Regel ist zu lesen, lesbische Liebe sei bis ins 20. Jahrhundert unerwähnt und unsichtbar gewesen. Ackroyds Darstellung des queeren London legt einen anderen Schluss nahe. Gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Frauen waren in historischen Zeiten vielfach erfolgreicher und geschützter als unter Männern. Es ist rückblickend nicht zu entscheiden, ob jene kühnen Frauen, die en travesti auftraten und sich teilweise "wie männliche Wüstlinge aufführten", im heutigen Sinne lesbisch oder transgender waren. Aber: "Frauenliebe fand unter dem Deckmantel enger Freundschaften statt, in deren Rahmen der Austausch von Zärtlichkeiten akzeptiert wurde und als normal galt. Auf diese Weise gelang es vielen Frauen, ihre leidenschaftlicheren Sehnsüchte zu verbergen. Dass alleinstehende Frauen zusammenwohnten, war über alle Epochen hinweg üblich und zulässig. Frauen, die sich küssten und umarmten, waren nicht der Rede wert" (90). Der Sexualwissenschaftler Havelock Ellis schrieb 1897: "Ein anderer Grund ist der, dass die Inversion beim Weibe so viel schwerer zu entdecken ist, denn man ist an eine so große Intimität und Vertraulichkeit unter Frauen gewöhnt, dass man bei ihnen kaum auf die Vermutung einer abnormen Beziehung kommt" (224). Frauen konnten sich zudem leichter als Männer verkleiden als umgekehrt. Das Zusammenleben von zwei Frauen war einfacher zu tarnen als das von zwei Männern (151).
Ackroyd kann allein für die Frühe Neuzeit 25 Fälle von Frauen aufzählen, die eine andere Frau geheiratet hatten und teilweise über Jahrzehnte zusammenlebten - oft wurde das Geheimnis erst mit dem Tod aufgedeckt. Hingegen wird von keinem einzigen männlichen Paar berichtet, dem dies in dieser Zeit in London geglückt wäre. Allerdings gab es auch Frauen, die sich als Männer verkleideten, um geschäftsmäßig als Heiratsbetrüger zu agieren (94f.).
Wenig ist zu kritisieren: London war nie eine "Stadt des Heiligen Römischen Reichs" (33). Liselotte von der Pfalz hat keinen "Herrscher", sondern einen nachgeborenen Prinzen geheiratet (112). Es wäre korrekter von geschlechtsangleichender Operation, statt von "geschlechtsumwandelnder Operation" zu sprechen (249). Das Buch ist eine additive Chronique scandaleuse. Leider wurde auf Fuß- oder Endnoten verzichtet. Ackroyd macht zwar immer deutlich, wen oder welche Quelle er gerade zitiert, aber Historikerinnen und Historiker wünschen sich genaue Band- und Seitenangaben. Die Geschichte von Frauen, die Frauen lieben, und von Personen, welche die Kleider des anderen Geschlechts bevorzugten wird konsequent miterzählt.
Zum Titel des Buches ist anzumerken, "queer" ist heute eine freiwillige Entscheidung, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war es eine notwendige Camouflage. Stand in der Vormoderne die Bestrafung des einzelnen Aktes im Vordergrund, verlagerte sich ab dem 18. Jahrhundert das Interesse auf die Behandlung der Person. Das spiegelt den gesamtgesellschaftlichen Prozess der Individualisierung. Nicht die sexuelle Orientierung der betroffenen Personen hat sich geändert, sondern ihre Rezeption durch die Mehrheitsgesellschaft. "Queer London" ist ein hochunterhaltsames sehr lehrreiches Buch.
Wolfgang Burgdorf