Rezension über:

Nino Nanobashvili: Die Ausbildung von Künstlern und Dilettanti. Das ABC des Zeichnens, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2018, 208 S., 160 Farb-, 43 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0612-4, EUR 39,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Armin Häberle
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Armin Häberle: Rezension von: Nino Nanobashvili: Die Ausbildung von Künstlern und Dilettanti. Das ABC des Zeichnens, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 6 [15.06.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/06/32549.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Nino Nanobashvili: Die Ausbildung von Künstlern und Dilettanti

Textgröße: A A A

Die Zeichnung wurde früh als Technik verstanden, die anderen Künsten vorgelagert sei. [1] Über konkrete Lehrpraxen in den Werkstätten und vor der Formung der institutionellen Akademien (Florenz 1563, Rom 1593) ist bislang nur wenig bekannt (17). [2] Die Gründungen waren von handfesten ökonomischen Konflikten um den Zugang zum höfischen und urbanen Kunstmarkt begleitet, der durch Gilden reguliert war. Dabei wurden keine grundsätzlich neuen Konzepte von Kunst verhandelt, der Streit kondensierte an Ausbildungsfragen. [3] Die Institutionalisierung wurde vielerorts von informellen Akademien vorbereitet (19), in denen Zeichnen an Dilettanti, gebildete Adlige, vermittelt wurde, die lange fortbestanden. In ihnen kamen auch Künstler zum gemeinsamen Aktstudium zusammen (13 Fn. 37). Parallel entwickelte sich die Gattung der 'Zeichenbücher', die die Ausbildung stützen sollten. [4]

Nino Nanobashvili verfolgt in der Erweiterung ihrer Dissertation (München, 2017) die Entwicklung in Italien zwischen 1560-1630 und richtet den Fokus auf die "Grundlagen der Zeichenausbildung" (189, 12), unter denen sie drei Schritte zur Aneignung des menschlichen Körpers fasst: das von ihr in Anlehnung an Alberti 'ABC-Methode' genannte Zeichnen von Körperteilen nach Vorlagen (20), dem Studium der Anatomie und Proportion sowie dem Aktzeichnen (12) als Möglichkeit zu deren Dynamisierung und Variation. Zur Untersuchung jeder Stufe zieht sie einen Objektkomplex heran, dem sie je eins von vier Kapiteln widmet:

1. Die fünf Manuskript-Fassungen Allessandro Alloris "Ragionamento delle regole del disegno" (72). Nanobashvili erläutert das Konzept des zeichnerischen 'ABC' und arbeitet dessen Verankerung in aristotelischen Denktraditionen heraus (57). Das Erfassen der menschlichen Anatomie folgt als logische Konsequenz aus diesen Konzepten (57ff.).

2. Bartolomeo Passarottis unvollendetes Anatomiebuch und die frühen Zeichenbücher ("Scuola perfetta") im Kontext der "Accademia" der Carracci (als Systematisierung der Anatomie als proportionalem Gefüge).

3. Die fünf erhaltenen Mappen Filippo Esengrens mit Zeichnungen nach Akten und ihren spiegelbildlichen Abklatschen. Anhand der Zeichnungen werden der Körper als künstlerischer Gegenstand und das semantische Potenzial der Pose diskutiert. Der Ausblick auf Esengrens editierte Bücher bezeugt eine Verschränkung von Zeichenbuch und gelehrtem Aktstudium.

Die Differenzen zwischen institutioneller und informeller Akademie betrachtet Nanobashvili nicht (18-19). Das Wissen, dass sich nicht nur eine Didaktik des Zeichnens ausformte, wird beim Leser vorausgesetzt und nur als Fußnote erwähnt (12 Fn. 34). Die Ausbildung von Künstlern und Dilettanti wird in Abgrenzung zur älteren Literatur gemeinsam behandelt, da sich so wechselseitige Bereicherungen ergäben (16). Das überblendet mögliche diverse Interessenslagen und Ausbildungsziele zwischen den Gruppen. Die in Äußerungen der Carracci zum Wert anatomischer Detailkenntnis für Künstler aufscheinenden Brüche (96-101) verfolgt sie dennoch äußerst aufschlussreich. Warum diese, trotz ihrer Zweifel am Gewinn für die Künstler, dennoch Sektionen anboten (96-97), kurz die konsequente Frage nach der informellen Akademie als spezifischem Angebot (und Markt!) für die Dilettanti wird aber nicht vertieft.

Die Konzentration auf exemplarische Objekte setzt deren präzise Funktionsaufklärung voraus, was die Diskussion von den Didaktiken abgelösten Faktoren erfordert. Die Durcharbeitung des Themas in Exkursschleifen ist daher ein Merkmal des Buches. Die Stärke der Publikation liegt darin, viele solcher Kontexte zu vertiefen, um schleifenartig gewinnbringend zum Thema zurückzufinden. Dies führt zu Neubewertungen von Alloris "Ragionamenti" und der "Scuola perfetta", die dem Leser durch viele Abbildungen und umfangreiche Quellen nachvollziehbar gemacht werden. Es entfaltet sich das Bild eines intellektuellen Klimas, in dem sich ein sukzessiv durchgeformtes Konzept der Zeichenausbildung ausprägte. Eine Ausnahme bilden Alloris Manuskripte, Basis des ersten Kapitels, da die Differenzen zwischen den Versionen nur umschrieben, aber nicht zitiert werden. Da seit 1979 nur 20 Folia von 92 publiziert wurden (23, 21 Fn. 84), hätte der Abdruck der Transkription der Manuskripte A-D einen bleibenden Mehrwert vermittelt.

Das Buch verliert, im Gegensatz zur vorzüglichen Darstellung der theoretischen Verschränkungen, durch die Beschränkungen etwas an analytischer Schärfe. Aufgrund der engen Objektauswahl lehnt sich Nanobashvilis Entwicklungsgeschichte der Zeichendidaktik, dargestellt als gestuftes Lernen, historische Explikation anhand dreier Künstlergenerationen (17-18), als mediale Entwicklung und regionaler Vektor, eng an die ihren Untersuchungsgegenständen impliziten Allegorien und Narrative an (beispielsweise der Lebensalter in Programmstichen). Die Analogien zwischen den gespiegelten Darstellungen in Jean Cousins Portrait-Traktat und jenen in Esengrens Zeichnungskonvolut forcieren Fragen nach der Funktion des letzteren. [5] Dies nährt den Verdacht, dass die Untersuchungsgegenstände alle in einem spezifisch auf die intellektuellen Interessen der Dilettanti ausgerichteten Korridor liegen, sodass sich hier eine gruppenspezifische Programmatik ausdrückt, die sich nicht ohne Weiteres regional oder auf die Werkstattpraxen ausdehnen lässt. [6] Ein Blick auf Simon Vouets Didaktik oder Virginia da Vezzo, die Frauen im Zeichnen unterrichtete, zeigt gravierende Unterschiede (Die Frage, ob auch 'Dilettantinnen' zeichnen lernten, stellt Nanobashvili nicht). [7] Die in der Werkstatt des Allori-Schülers Ludovico Cardi an Künstler wie Bedeschini, Biliverti und folgend Morandi vermittelten 'schulbildenden' Zeichentechniken nähren diese Zweifel ebenfalls.

Nanobashvili liefert keine Geschichte oder gar Übersicht der Zeichendidaktik. Aber ihr aus der Gegenüberstellung von Zeichenbüchern, Texten und einem Zeichnungskonvolut gewonnener Einblick wirft ein konzises, frisches und überaus lesenswertes Licht auf die Explikation einer zielgruppen-orientierten Didaktik, die vom Interesse an Geometrie und der Systematisierung der Welt mit dem Menschen im Zentrum angetrieben wurde.


Anmerkungen:

[1] Michael Thimann: "Idea" und "Conterfei". Künstlerisches und wissenschaftliches Zeichnen in der Frühen Neuzeit, in: Disegno. Der Zeichner im Bild der Frühen Neuzeit, Berlin 2008, 15-30; Ulrich Pfisterer: Der Kontrakt des Zeichners. Barent Fabritius und die disegno-Theorien der Frühen Neuzeit, in: Ibid., 45-53.

[2] Pfisterer 2008 (wie Anm. 1), 47.

[3] Katharina Krause: Par les préceptes et par les exemples. Überlegungen zur Ausbildung der Maler im Paris des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 69 (2006), 194-216, 194.

[4] Pfisterer 2008 (wie Anm. 1), 47.

[5] Jean Cousin: Livre de pourtraiture [...], A Paris: Chez Iean le Clerc [...] [1608], Digitalisat: https://www.nlm.nih.gov/exhibition/historicalanatomies/cousin_home.html (Stand: 10.8.2016), 37, 59, 61, 71.

[6] Pfisterer 2008 (wie Anm. 1), 47.

[7] Jacques Thuillier: Vouet, Paris 1990, 35, 38-39.

Armin Häberle