Senta Herkle / Sabine Holtz / Gert Kollmer-von Oheimb-Loup (Hgg.): 1816 - Das Jahr ohne Sommer. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung im deutschen Südwesten (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; Bd. 223), Stuttgart: W. Kohlhammer 2019, IX + 260 S., 8 Farb-, 28 s/w-Abb., ISBN 978-3-17-036523-0, EUR 28,00
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1816 litten weite Teile Europas unter einer der schlimmsten Hungersnöte der neueren Geschichte. Schwere Gewitter, Dauerregen und Kälteeinbrüche führten zu gravierenden Missernten und einem drastischen Anstieg der Lebensmittelpreise. Als Ursache wird in der Forschung der gewaltige Ausbruch des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien angesehen, durch den enorme Mengen Schwefelgase in die Atmosphäre gelangten und dort zu Aerosolen umgewandelt wurden, wodurch die Sonneneinstrahlung in weiten Teilen der Welt beeinträchtigt wurde. In Süddeutschland und der Schweiz wurde das Jahr 1816 daher zu einem "Jahr ohne Sommer", einem der kältesten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. [1]
Der vorliegende Band enthält die Beiträge einer interdisziplinären Tagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Hohenheim im Oktober 2016, die sich besonders mit den "klimatischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Ausdeutungen und Folgen" (1) der Hungerkrise von 1816 befasste, wobei der Schwerpunkt auf dem deutschen Südwesten lag.
Nach einer Einleitung des Herausgeberteams eröffnet der umfangreiche Beitrag von Wolfgang Behringer über "Die Tamborakrise. Zum Einfluss der Geologie auf die (menschliche) Geschichte" die Reihe der Beiträge. Wie bereits in seinem grundlegenden Werk zur Thematik ausgeführt wurde, [2] betont Behringer erneut die Bedeutung von Naturereignissen für die soziale, wirtschaftliche und politische Geschichte sowie vor allem die tiefgreifenden globalen Auswirkungen des Tambora-Ausbruchs, der einen grundlegenden Einschnitt in der Geschichte gebildet habe. Sein Beitrag vermittelt einen eindrucksvollen Überblick über die weltweiten Ereignisse und Folgen der "Tamborakrisenzeit", aber auch über die Wege aus der Krise, die Gesellschaften und Staaten beschritten.
Gert Kollmer-von Oheimb-Loup befasst sich mit den Folgen des Krisenjahres für die württembergische Wirtschaftspolitik und misst dem Hungerjahr einen beschleunigenden Einfluss auf die Reformen bei, die angesichts der Lage der württembergischen Wirtschaft unabdingbar waren. Auch der Württembergischen Sparkasse verhalf die Krise zum Durchbruch, wie der Beitrag von Thorsten Proettel belegt. Aus zeitgenössischer Sicht stellte sich das Hungerjahr als eine Teuerungskrise dar, denn aufgrund der Verknappung der Lebensmittel wurden diese für die ärmere Bevölkerung unbezahlbar. Die Sparkasse als gemeinnützige Finanzinstitution sollte daher auch als Krisenvorsorge dienen. Martin Uebele bietet danach einen Überblick über die Auswirkungen der Tamborakrise auf die Getreidepreise in China, die er mit denen in Europa und den USA vergleicht. Dabei stellt er fest, dass mit Ausnahme der Provinz Yunnan in China keine Teuerungskrise wie in Europa nachweisbar war.
Das Krisenmanagement der badischen Regierung während der Jahre 1816 bis 1818 bildet den Gegenstand des Beitrags von Clemens Zimmermann. Mit Hilfe eines kommunikationshistorischen Ansatzes weist er die wichtige Rolle der Presseberichterstattung nach, die die Regierung zu energischerem Handeln bewegte. Mit der Publizistik im Umfeld der Jahre 1816/17 befasst sich auch Senta Herkle, die die Wahrnehmung der Ereignisse in der europäischen Presse analysiert und damit die gesamteuropäische Dimension der Hungerkrise belegt. Sie weist jedoch auch darauf hin, dass für die Erforschung der Auswirkungen der Krise gerade die regionalen Regierungs- und Intelligenzblätter von besonderer Bedeutung sind. Die "religiösen Reaktionen" auf das Hungerjahr in Bayerisch Schwaben untersucht Andreas Link, wobei vor allem die chiliastische Allgäuer Erweckungsbewegung des Dorfpfarrers Ignaz Lindl und die Auswanderung von vielen seiner Anhänger nach Russland im Zentrum stehen. Die Krisenbewältigung der evangelischen und der katholischen Kirche im deutschen Südwesten wird in dem Beitrag von Sabine Holtz beleuchtet, die auf die Divergenz zwischen der religiösen Erwartungshaltung der Laien und dem aufgeklärten theologischen Verständnis der Kirchenleitungen hinweist. Die eindrucksvollen württembergischen Medaillen auf die Hungersnot 1816 und die gute Ernte des Jahres 1817 bilden den Untersuchungsgegenstand des Beitrags von Matthias Ohm. Abschließend befasst sich Joachim Kremer aus musikhistorischer Perspektive mit den Naturereignissen und den Vampyr-Opern Heinrich Marschners und Peter von Lindpaintners, da diese Sujets durch die Wetteranomalien des Jahres 1816 beeinflusst worden waren.
Der Band bietet einen guten Einblick in die Ereignisse des Hungerjahres und seiner Folgen im deutschen Südwesten. Besonders hervorzuheben ist die international vergleichende und interdisziplinäre Perspektive, die geschichtswissenschaftliche, theologische, wirtschaftswissenschaftliche, musikwissenschaftliche, numismatische sowie kommunikationswissenschaftliche Ansätze verknüpft. Wie einige Beiträge aufgezeigt haben, waren nicht alle Länder von den Auswirkungen des Tambora-Ausbruchs in gleichem Ausmaß betroffen, so fiel die Ernte in Russland sogar gut aus, weshalb die Beschaffung von russischem Getreide zur Bewältigung der Krise beitrug. Selbst innerhalb Württembergs und Badens waren die Ernteeinbrüche und die Not regional unterschiedlich stark ausgeprägt. Festzuhalten ist auch, dass es weder in Württemberg noch in Baden zu gewaltsamen Hungerprotesten kam. Hier bieten sich künftig vergleichende Untersuchungen mit jenen Ländern an, wo solche Proteste vorkamen.
Darüber hinaus dürfte eine historische Kontextualisierung des Hungerjahrs 1816, wie die Beiträge von Uebele und Herkle zeigen, sehr ertragreich sein. So waren Klimaanomalien bereits vor 1815 greifbar: Das gesamte Jahrzehnt zwischen 1810 und 1820 bildete eine der kältesten Dekaden der neueren Geschichte. Vor allem die Winter 1812/13 und 1813/14 waren extrem kalt und die Ernten der jeweils folgenden Sommer erwiesen sich als sehr mager. Gerade diese Aneinanderreihung schlechter Ernten mit dem Tiefpunkt 1816 machte die besondere Schwere dieser Hungerkrise aus. Die Missernte von 1816 traf die europäische Bevölkerung zudem in der denkbar ungünstigsten Zeit, denn die Napoleonischen Kriege waren gerade erst im Jahr zuvor zu Ende gegangen. Ein Vierteljahrhundert lang hatten Kriegszüge bislang unbekannten Ausmaßes die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen. Die Kriege hinterließen in weiten Teilen des deutschen Südwestens eine ausgeplünderte Landbevölkerung und verwüstete Felder. Gerade auch vor diesem Hintergrund ist die Fokussierung auf die zeitgenössischen Wahrnehmungen und Deutungen, wie sie in dem Band deutlich wird, umso wichtiger.
Es bleibt zu hoffen, dass der Sammelband breit rezipiert wird, zu weiteren Forschungen anregt und auch allgemein die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft für die Relevanz extremer Naturphänomene und klimatischer Veränderungen schärft.
Anmerkungen:
[1] Zur Schweiz: Daniel Krämer: "Menschen grasten nun mit dem Vieh". Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17, Basel 2015.
[2] Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, 5. Aufl., München 2018. Vgl. hierzu die Rezension von Dieter Langewiesche in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: http://www.sehepunkte.de/2016/01/27367.html
Michael Wettengel