André Krischer: Die Macht des Verfahrens. Englische Hochverratsprozesse 1554-1848 (= Verhandeln, Verfahren, Entscheiden. Historische Perspektiven; Bd. 3), Münster: Aschendorff 2017, VII + 720 S., 74 s/w- Abb., ISBN 978-3-402-14659-0, EUR 79,00
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André Krischer untersucht in seiner Habilitationsschrift englische Hochverratsprozesse über einen Zeitraum von 300 Jahren. Zwischen 1554 und 1848 fanden 491 Hochverratsprozesse statt, von denen der Verfasser 30 einer genaueren Analyse unterzieht. Quellengrundlage seiner Analysen sind nicht die durch die Verfahren generierten Akten, sondern publizierte Prozessdokumentationen sowie Zeitungsberichte, Selbstzeugnisse, Pamphlete, Flugschriften und anderes mehr (30-35). Von welchem Erkenntnisinteresse der Verfasser geleitet ist, bleibt vage. Es geht im Kern um die "Formierung des modernen Verfahrens", für die der Verfasser bis zum ersten Drittel des 18. Jahrhunderts den Hochverratsprozessen eine "Schrittmacherfunktion" zuschreibt (423), gleichzeitig aber auch festhält, dass für die Entwicklung des modernen Verfahrens die Hochverratsprozesse nicht die entscheidende Rolle gespielt hätten (500). Die normative Grundlage streift Krischer nur kurz (14-16), interessieren tut sie ihn wenig, denn "was jeweils unter Hochverrat verstanden und angeklagt wurde, lässt sich viel besser am konkreten Fall zeigen als generalisierend und abstrakt" (16). Dennoch kommt er im Verlauf der Arbeit immer wieder auf das Hochverratsgesetz unter Edward III. von 1352 zurück, das die Anklagevertreter bis ins 19. Jahrhundert zur Argumentation nutzten und viele nachfolgende Gesetze wurden nur als Auslegungshilfen dieses Statuts gesehen. Dass der Verfasser darauf verzichtet, die Entwicklung der Gesetzgebung zum Delikt des Hochverrats wie auch die normative Regelung der gerichtlichen Verfahren in seinem Untersuchungszeitraum systematisch zu erörtern, halte ich für einen Schwachpunkt der Arbeit. Denn so erscheint manches doch allzu beliebig.
Die Arbeit ist in drei zeitliche Perioden unterteilt, die jeweils für bestimmte "Verfahrensregime" stehen sollen (18). Demnach herrscht in der ersten Phase das "Rhetorische Regime" (1550-1660), in dem sich die Wahrheitsfindung häufig als Rededuell zwischen Angeklagten, Anklägern und Richtern darstellte, in der zweiten das "Untersuchungsregime" (1660-1730), das Krischer dadurch charakterisiert sieht, dass neue juristische Praktiken (Zeugenverhöre, Plädoyers von Strafverteidigern) zur "Tatsachenerzeugung" führten und in der dritten schließlich das "Normalisierungsregime" (1780-1850), das unter dem Vorzeichen der "Normalisierung der bis dahin erreichten Verfahrensförmlichkeiten steht" (18). Diese Etikettierung nimmt Krischer erstaunlicherweise bereits in der Einleitung vor und nicht etwa im Fazit, als Ergebnis seiner Analyse, was eine der Aporien der Arbeit ist. Die Verwendung des politikwissenschaftlichen Regimebegriffs setzt zudem die Reflexion über die in diese Ordnungsmuster eingehenden normativen Prämissen zwingend voraus.
Dass es keinen "interpretativen Generalschlüssel" gibt, "mit dem die Prozesse untersucht werden, sondern jeweils durch den Gegenstand nahegelegte praxeologische, akteurszentrierte, sprachakttheoretische, ritualtheoretische oder entscheidungssoziologische Perspektiven und Zugänge" (19) und somit auch ein ganzes Theorienarsenal (Foucault, Bourdieu, Luhmann, Sofsky) aus dem der Verfasser fallbezogen entnimmt, was ihm hilfreich erscheint, unterstreicht den Eindruck der Beliebigkeit. Es geht im Wesentlichen um symbolisch-rituelle Kommunikation und machtgenerierende und machtstützende Effekte symbolischer Praktiken in Verfahren.
Das Buch beginnt mit einem Bezug auf die Haager Kriegsverbrecherprozesse, dessen Funktion sich mir nicht erschlossen hat. Das UN- Kriegsverbrechertribunal arbeitet nach einem Statut, hier finden keine Aushandlungsprozesse statt, die schließlich die Verfahren verändern könnten. Auch werden die Statuten nicht durch die Verhaltensweisen von Angeklagten und deren öffentlichkeitswirksame Inszenierungen geändert. Das Maß der Strafe ist je nach Verfahrensausgang festgelegt, alles andere wäre ein eklatanter Verstoß gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit! Allenfalls die öffentliche Wahrnehmung der Verfahren als "gerecht" oder "ungerecht" mag durch das Verhalten der Angeklagten bei den Verfahren beeinflussbar sein. Daher stellt der Einstieg geradezu den Antipoden zu den von Krischer untersuchten Verfahren statt.
In zehn Kapiteln präsentiert der Verfasser zunächst chronologisch in dichter Beschreibung Hochverratsprozesse, die den drei Regimen zugeordnet werden. Eine große Rolle spielen in der Frühphase Prozesse gegen katholische Verschwörer. In diesem Zusammenhang wäre eine einlässlichere Erörterung der besonderen Problematik des Hochverratscharakters einer drohenden katholischen Restitution im frühneuzeitlichen England wünschenswert gewesen. In Kapitel VIII, das Ende des 18. Jahrhunderts einsetzt, wird die Chronologie dann durch thematische Einschübe ("Rituale", "Programmstruktur des Verfahrens", "Räume") mehrfach durchbrochen, in Kapitel IX ("Anwälte und ihre Angeklagten") und X ("Akzeptanzbeschaffung, Freisprüche, Verurteilungen und Revisionen") weitgehend aufgegeben. Diese irritierende Gliederung erschwert die Lektüre, da man sich nicht immer sicher ist, über welches der drei Regime gerade gesprochen wird.
Ärgerlich sind eine Reihe von verallgemeinernden Aussagen, die nicht belegt werden, wie z.B.: "Eine reformatorische Bewegung der einfachen Leute hat es auf der Insel nicht in vergleichbarem Ausmaß gegeben wie in vielen anderen Teilen Europas" (97); "Wie bei Verrat und Majestätsverbrechen anderswo im vormodernen Europa entfaltet auch die englische Strafjustiz im 16. Jahrhundert jenes 'Fest der Martern' und 'Theater des Schreckens' das Michel Foucault und Richard van Dülmen eindrücklich beschrieben haben" (84). "Anderswo in Europa" bzw. in "vielen anderen Teilen Europas" sind Formulierungen, die in wissenschaftlichen Texten nicht vorkommen sollten, es sei denn, man kennt wirklich die Strafrechtsgeschichte einer erklecklichen Anzahl europäischer Länder.
Als Ergebnisse der Arbeit hält der Verfasser fest 1) einen Beitrag zur Kulturgeschichte der Rechtspraxis geleistet, 2) langfristige Entwicklungen und Wandlungen rekonstruiert, 3) die Ausdifferenzierung und operative Schließung von Gerichtsverfahren deutlich gemacht und schließlich 4) am Beispiel der Hochverratsprozesse die Macht der Verfahren dargelegt zu haben. Zu den Punkten 1-3 leistet die Arbeit ohne Frage einen interessanten Beitrag, allerdings muss man doch die Frage stellen, ob dazu 605 Seiten reiner Text erforderlich sind. Was genau die "Macht des Verfahrens" sein soll, bleibt für mich diffus, zumal der wortreiche Stil und das überbordende theoretische Vokabular die Lektüre zu einer mühsamen Angelegenheit machen. Es bleibt zu hoffen, dass der Verfasser seine Arbeit in anderer Form einem breiteren wissenschaftlichen Publikum zugänglich macht, um so seine interessanten Ansätze in die wissenschaftliche Diskussion einzuspeisen.
Helga Schnabel-Schüle