Michael Sommer / Tassilo Schmitt (Hgg.): Von Hannibal zu Hitler. »Rom und Karthago« 1943 und die deutsche Altertumswissenschaft im Nationalsozialismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2019, 294 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-534-27107-8, EUR 50,00
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Der vorliegende Band bietet eine "disziplinengeschichtliche" Einordnung oder Würdigung des von Joseph Vogt konzipierten Sammelwerkes Rom und Karthago aus dem Jahre 1943. Der Altmeister Karl Christ bezeichnete ein solches Unternehmen als "Wissenschaftsgeschichte"; im Lexikon Der neue Pauly benutzt man überdies den Terminus "Rezeptionsgeschichte". In der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft sind zahlreiche wichtige Beiträge zu diesen Themenbereichen erschienen: So Publikationen Karl Christs, die wertvollen Bände der Wege der Forschung und 2014 auch ein im deutschen Sprachraum zuweilen recht kritisch begrüßtes Buch von Johann Chapoutot mit dem Titel Der Nationalsozialismus und die Antike. Es ist gut, dass diese Tradition auf hohem Niveau fortgesetzt wird.
Von Hannibal zu Hitler enthält die ausgearbeiteten Beiträge einer Tagung, die 2013 im Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst stattgefunden hat. Die Herausgeber Michael Sommer und Tassilo Schmitt schreiben, ihr Werk erscheine nun gleichsam zum 75. Jubiläum von Rom und Karthago. Geboten werden die Ergebnisse kritischer Relektüren und Analysen des damaligen "Gemeinschaftswerkes", einem Beitrag der Altertumswissenschaft für den Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften. In eben jenem Jahr 1943 verließ der "Wüstenfuchs" Generalfeldmarschall Rommel von Hitler ausgezeichnet, aber besiegt, den Kriegsschauplatz in Afrika. Er wandte sich nach Italien und befahl dort den "totalen Krieg". Schon im Herbst wurde er mit seinen Truppen indes weiter an den Atlantikwall verlegt.
Uwe Walter bezeichnet dieses Buch in seiner "Bilanz" am Ende des Bandes offen und salopp als ein "gruselig klapperndes Skelett". Rom und Karthago steht in zahlreichen Schränken altertumswissenschaftlicher Bibliotheken. Scripta manent. Wissenschaftliche Bedeutung wird ihm zuweilen noch zugemessen, aber nicht von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wie beispielsweise Josephine Crawley Quinn, die 2018 ein Buch der Dekonstruktion des Phönizier-Begriffes gewidmet hat. Aus den modernen Netzwerken der Forscherinnen und Forscher zur Kultur der Phönizier hat immerhin Corinne Bonnet über den Band geschrieben, aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen, um Vorurteile aufzudecken, 2005 im ersten Jahrgang der Zeitschrift Anabases.
Rom und Karthago gilt als ein repräsentatives Zeugnis für die bedenklichen politisch-ideologischen Präferenzen in den Wissenschaften vom Altertum vor 75 Jahren. Zu feiern gibt es nichts, zu bedauern viel. Dass 2019 in Wahrheit 76 Jahre zurückliegen, und ein Jubiläum, das keines ist, verpatzt wurde, passt. Ein erfolgreicher fuck up gewissermaßen. Die Veranstaltungen für den vor 75 Jahren zurückliegenden D-Day, der Landung der Alliierten in der Normandie, wurden präziser und unvergleichlich massiver vorbereitet und durchgeführt. Dabei schaute man nicht allein auf die Sieger und ihre Leiden, sondern auch auf die Verlierenden.
Das vorliegende Buch dreht sich in der Hauptsache um die Frage, was die auf der Verliererseite des Zweiten Weltkrieges stehenden Verfasser zu jenem damaligen "Gemeinschaftswerk" beitragen wollten und beigetragen haben. Es stand im Dienste des von Paul Ritterbusch für das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung sowie die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung geleiteten Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften. Zu den besonders angesehenen Disziplinen zählten traditionell die Wissenschaften vom Altertum. Sie verloren damals an Bedeutung.
Zum Kreis der einflussreichsten Altertumswissenschaftler gehörten die Althistoriker Joseph Vogt und Helmut Berve. Die führenden Klassischen Philologen - der Gräzist Werner Jaeger, der Archeget des "Dritten Humanismus", und der Latinist Eduard Norden - hatten Deutschland trotz ihrer Loyalität zum deutschen Staat verlassen müssen. Archäologie, das dritte Kerngebiet der Altertumswissenschaften, war seit langem daran, zur Leitwissenschaft im Bereiche des Altertums zu werden, doch für die Ausformulierung ideologisch und politisch relevanter Beiträge war die Alte Geschichte geeigneter. Wilhelm Weber etwa tat viel dafür. Auch seinem Schüler Joseph Vogt ging es darum, Alte Geschichte als politisch einflussreiche Disziplin im NS-Staat zu profilieren und Einfluss zu gewinnen. Als Aufsteiger aus bäuerlichem und katholischen Milieu erzielte er bemerkenswerten Erfolg. Er hatte es schwieriger als sein um ein Jahr jüngerer Konkurrent Helmut Berve, der aus einer großbürgerlichen Familie stammte und ihm in einer brillanten Karriere vorausging. Schon 1927 etablierte sich Berve auf einem angesehenen Lehrstuhl in Leipzig. Von dort aus wirkte er mit voller Energie. Berve sorgte denn auch für das Erscheinen des ersten umfassenden Beitrages im Rahmen des Kriegseinsatzes der Altertumswissenschaft, den beiden 1942 erschienenen und auf einer Tagung im Vorjahr gründenden Bänden Das neue Bild der Antike.
Vogt wollte auftragsgetreu die geschichtlichen Folgen des Blutserbes der Völker und der Rassengegensätze herausgearbeitet haben, doch seine ersten Sätze seiner Einleitung "Unsere Fragestellung" gelten den Erfahrungen des Krieges und des Völkerhasses. Dafür stehen die Namen von Rom und Karthago. Solche Erfahrungen hatten schon in der Vergangenheit große Wissenschaftler bewogen, die Konflikte ihrer Zeit mit demjenigen zwischen Rom und Karthago zu vergleichen. Zu ihnen zählt der princeps philologorum Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff am Ende des Ersten Weltkrieges. Man wollte dem Deutungspotential der Altertumswissenschaft Macht verschaffen. Solches Ringen gehört in ein Zeitalter der Ideologien und des Nationalismus und ist von starken konservativen und nationalistischen Loyalitäten gespiesen und geprägt. Nun nahm man die Vorgaben des NS-Staates auf. Eine wichtige Funktion besaßen persönliche Überzeugungen und Gefühle. Diese lassen sich vielleicht so zusammenfassen: Bildung, Kultur, Geschichtswissenschaft und Altertumswissenschaft sollen an der Macht beteiligt sein. Wissenschaftler stehen im "Dienst" dieser Aufgabe. Solchen "Dienst" überhöhten die Einzelnen religiös, quasireligiös, ideologisch oder mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit oder kulturelle Bedeutung. Der Bezug auf Idealisierungen dieser Art half den sich für das NS-System engagierten Professoren nach 1945, auf ihre Unschuld zu verweisen und noch schlimmer: Verfehltes von damals weiter zu pflegen.
Die Wissenschaftler, die zu Rom und Karthago beigetragen haben, waren Meister ihrer Disziplinen. Man lernt aus ihren Texten, bei manchen mehr (so bei Alfred Heuss), bei anderen weniger (so bei Fritz Schachermeyr). Nebst diesen beiden und Joseph Vogt, alle drei Althistoriker, waren weiter an Rom und Karthago beteiligt: die Althistoriker Wilhelm Ensslin, Matthias Gelzer, Franz Miltner und Fritz Taeger, der Klassische Archäologie Reinhard Herbig sowie der Latinist Erich Burck. Mit der Auswertung der kritischen Lektüren befassen sich: Christoph Auffarth, Martin Dennert, Hans-Joachim Gehrke, Dorothea Rohde, Tassilo Schmitt, Raimund Schulz, Helmuth Schneider, Michael Sommer, Uwe Walter sowie als Gesprächspartner im Hintergrund Wilfried Nippel. Sie haben ein Buch verfasst, das ich rückhaltlos empfehle. Man muss die Geschichte wissenschaftlicher Disziplinen kennen. Ich füge noch an, dass der zweite Band Lebensbilder. Klassische Archäologen und der Nationalsozialismus auch schon erschienen ist (2016), und ein von Dietrich Boschung und Jürgen Hammerstaedt herausgegebener Band Das Charisma des Herrschers (2015) unter anderem auch Fritz Taeger behandelt.
Beat Näf