Rezension über:

Bianca Roitsch: Mehr als nur Zaungäste. Akteure im Umfeld der Lager Bergen-Belsen, Esterwegen und Moringen 1933-1960 (= Nationalsozialistische 'Volksgemeinschaft'; Bd. 9), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 419 S., 4 Farbabb., eine Tbl., 8 Kt., ISBN 978-3-506-78649-4, EUR 89,00
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Rezension von:
Andrea Riedle
KZ-Gedenkstätte Dachau
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Andrea Riedle: Rezension von: Bianca Roitsch: Mehr als nur Zaungäste. Akteure im Umfeld der Lager Bergen-Belsen, Esterwegen und Moringen 1933-1960, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 10 [15.10.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/10/33088.html


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Bianca Roitsch: Mehr als nur Zaungäste

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Bianca Roitsch untersucht in ihrer Arbeit die Beziehungen zwischen den drei Lagern Moringen, Esterwegen und Bergen-Belsen sowie der Bevölkerung im ländlichen Umfeld. Im Mittelpunkt steht dabei das "Verhältnis von Distanz, Gleichgültigkeit und Hilfsbereitschaft als Handlungsmöglichkeiten" der von ihr als "Zaungäste" bezeichneten Anwohner (14). Ihre Dissertation entstand im Rahmen des 2009 eingerichteten niedersächsischen Forschungskollegs Nationalsozialistische "Volksgemeinschaft"? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort.

Die Studie ist komparatistisch angelegt und geht auf regional- und lokalspezifische Besonderheiten ein. Da kein geschlossener Aktenbestand vorhanden ist, der Aufschluss über alle Berührungspunkte zwischen Anwohnern, Lagerinsassen und Bewachungspersonal geben könnte, arbeitet Bianca Roitsch mit exemplarischen Darstellungen. Neben Chroniken und amtlichen Korrespondenzen wertete sie vor allem Presseerzeugnisse, Egodokumente sowie Entnazifizierungsakten aus. Eine Besonderheit ihres Untersuchungsgegenstandes ist es, dass der Lagertypus und die Zuständigkeiten an den drei Standorten im Laufe der Zeit mehrmals wechselten. Außerdem wurde das Kriegsgefangenenlager und KZ Bergen-Belsen erst in den 1940er Jahren eingerichtet, während es in Moringen und Esterwegen bereits 1933 "frühe" Konzentrationslager gab.

Zunächst untersucht Bianca Roitsch die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen in den drei ländlich geprägten Gemeinden Bergen, Esterwegen und Moringen bis 1933. Während die Gemeinde Esterwegen bis in die 1930er Jahre von der Industrialisierung weitgehend unberührt blieb und die katholisch geprägte Einwohnerschaft überwiegend die Zentrumspartei wählte, stieg in den protestantisch geprägten Ortschaften Bergen und Moringen die NSDAP bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme zur erfolgreichsten Partei auf. Wie im Laufe der Untersuchung deutlich wird, führte diese unterschiedliche Prägung aber keineswegs zu einem grundsätzlich anderen Verhalten der "Zaungäste" gegenüber den Häftlingen und dem Bewachungspersonal.

Bianca Roitsch thematisiert im nächsten Kapitel die Reaktion von Politikern und Anwohnern auf die Etablierung der KZ Moringen und Esterwegen im Frühjahr/Sommer 1933. Diese standen der Maßnahme überwiegend positiv gegenüber, u.a. weil sie sich eine Stärkung der lokalen Wirtschaft erhofften. Diese Erwartung erfüllte sich zumindest teilweise: So erhielten Handwerker und Gewerbetreibende regelmäßig Aufträge für Instandsetzungsmaßnahmen in den Lagern oder für die Lieferung von Lebensmitteln. Die regionale und lokale Presse rechtfertigte die Inhaftierung von überwiegend politischen Häftlingen mit der Notwendigkeit ihrer "Umerziehung" zu "anständigen Volksgenossen". In Anlehnung an Detlev Peukert stellt Roitsch fest, dass selbst "bürgerliche und konservative Kreise, die der NSDAP distanziert gegenüberstanden" (388), das Durchgreifen gegen Kommunisten und Sozialdemokraten begrüßt hätten.

In der nächsten Phase vom Herbst 1933 bis zum Kriegsanfang wandelten sich die Funktionen der Lager mehrfach, was nach Bianca Roitsch den Gewöhnungsprozess an totale Institutionen erleichterte (126). Dabei wird auch deutlich, dass Teile der Bevölkerung keineswegs nur "Zaungäste" waren, sondern zu Tätern und Mittätern wurden. Nachdem im Herbst 1933 in Moringen das Konzentrationslager durch ein reines Frauen-KZ ersetzt wurde, rekrutierte man die Bewacherinnen aus der lokalen NS-Frauenschaft. Unter der Leitung des Direktors, der auch für das Werkhaus zuständig war, in dem sich die Konzentrationslager befanden, kam es hier kaum zu physischer Gewaltausübung. In Esterwegen war die Situation eine andere: Die Häftlinge des KZ und später die Strafgefangenen waren insbesondere für die Moorkultivierung eingesetzt, wo manche Anweisearbeiter von der örtlichen Kulturbauleitung die Häftlinge noch stärker misshandelten als das eigentliche Bewachungspersonal. Weitere Berührungspunkte wie Konflikte zwischen der Bevölkerung und der SS, die medizinische Behandlung von Häftlingen im Sögeler Krankenhaus, die Zurschaustellung der Lager im Rahmen von Besuchsprogrammen gaben zum Teil ungewollt Einblicke im Gebaren des Lagerpersonals und der Behandlung der Häftlinge.

Nach Kriegsbeginn bis zur Befreiung gab es weitere Funktionsveränderungen der Lager, so dass die Anwohner immer häufiger in Kontakt mit den Häftlingen kamen. Waren die Lager schon zuvor keineswegs vollständig abgeschottet, so traf dies für diese Phase noch weniger zu. Die Gefangenen im Jugend-KZ, das 1940 in den Räumen des Werkhauses in Moringen eingerichtet wurde, sowie die Strafgefangenen von Esterwegen wurden ab Herbst 1942 verstärkt in der Rüstungsindustrie außerhalb der Lager eingesetzt. Dasselbe galt schließlich auch für die Häftlinge des KZ Bergen-Belsen, wo die massiven deutschen Verbrechen nicht erst bei der Befreiung deutlich zu Tage traten, sondern der schlechte Zustand der Gefangenen sichtbar und der Rauch und Gestank aus dem Krematorium wahrnehmbar waren. Viele Anwohner reagierten mit Wegschauen, es gab aber auch kleine Hilfsmaßnahmen, die Bianca Roitsch vor allem auf Eigennutz zurückführt.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Verhaltensspektrum der Bevölkerung - wie bei anderen KZ-Standorten auch [1] - von der Mittäterschaft über Gleichgültigkeit bis zu einer gewissen Hilfsbereitschaft reichte.

Bianca Roitsch geht in ihrem letzten Kapitel auf die Jahre nach der Befreiung ein. Sie analysiert sowohl den Umgang der Anwohner mit den Bewohnern der DP-Lager als auch deren erinnerungskulturelle Selbstverortung in den 1940er und 1950er Jahren. Der Blick auf die Nachkriegszeit offenbart die erschreckenden Kontinuitäten in der rassistischen und antisemitischen Einstellung der Bevölkerung. So wurden beispielsweise für Diebstähle und Plünderungen vor allem "Polen" und "Russen" verantwortlich gemacht, während Diebstähle von Einheimischen ignoriert oder mit der allgemeinen Not entschuldigt wurden. Das Verhalten der Anwohner und der lokalen Verwaltungen zeigt außerdem, dass die ehemaligen Lager für sie keine sakrosankten Orte waren, mit denen besonders würdevoll umgegangen werden musste.

Die Untersuchung von Bianca Roitsch ist gründlich recherchiert und gut geschrieben. Sie bettet ihre Untersuchung relativ breit in die historische Entwicklung der Lager ein. Fehler wie die Verwechselung des "Kommissarbefehls" mit den Einsatzbefehlen des Reichssicherheitshauptamts kommen selten vor. Bedauerlich ist allerdings, dass Roitsch - angelehnt an die "Volksgemeinschafts"-Forschung von Inklusion und Exklusion - sämtliche Lagertypen in Moringen, Esterwegen und Bergen-Belsen durchgehend als "Exklusionslager" subsummiert. Zwar geht sie anfangs auf Unterschiede zwischen den Lagertypen ein, unterlässt aber in der Folge die weitere begriffliche Differenzierung. Dies wäre aber angesichts der Tatsache, dass es sich um drei Standorte mit mehreren unterschiedlichen Lagertypen handelte, für den Leser sehr hilfreich gewesen. Während Bianca Roitsch in den einzelnen Kapiteln gewinnbringend zahlreiche Bezüge zu Analysen und Ergebnissen von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen herstellt, fehlt im Fazit ein Vergleich der übergreifenden Ergebnisse mit Forschungen zu anderen KZ-Standorten. Insgesamt handelt es sich bei Mehr als nur Zaungäste um ein lesenswertes Buch, welches einen wichtigen Forschungsbeitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der ehemaligen Lager im heutigen Niedersachsen leistet.


Anmerkung:

[1] Vgl. z.B. Sybille Steinbacher: Dachau. Die Stadt und das Konzentrationslager in der NZ-Zeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft, 2. Aufl., Frankfurt/M. u. a. 1994; Jens Schley: Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager 1937-1945, Köln u. a. 1999; Frédéric Bonnesoeur: Im guten Einvernehmen. Die Stadt Oranienburg und die Konzentrationslager Oranienburg und Sachsenhausen 1933-1945, Berlin 2018.

Andrea Riedle