Daniel Rittenauer: Das Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten in der NS-Zeit (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte; Bd. 169), München: C.H.Beck 2018, X + 432 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-10784-9, EUR 49,00
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Die bayerischen Landeshistoriker haben sich nach 1945 mit dem Kapitel "Drittes Reich" immer wieder schwergetan. Wenn sie die NS-Zeit überhaupt thematisierten, dann in der Regel einseitig und abgrenzend. Die NS-Zeit wurde noch bis in die 1990er Jahre als eine kurze Unterbrechung in der 1000-jährigen Erfolgsgeschichte des bayerischen Staates gedeutet. Weil Bayern als Staat durch die Verreichlichung zwischen 1933 und 1945 nicht mehr existierte, so die weitverbreitete Sichtweise, trugen die Bayern keine Verantwortung für die Untaten des NS-Regimes. Die Tatsache, dass sich die bayerische Ministerialverwaltung jedoch an diesen Verbrechen beteiligt hatte, wurde lange Zeit ignoriert. Die Landesgeschichtsschreibung in Bayern verstand sich nach 1945 als die "historische Legitimationswissenschaft" des Freistaats - und tut dies teilweise immer noch [1].
Umso lobenswerter ist vor diesem Hintergrund, dass Daniel Rittenauer nun eine kritische Analyse zur Funktionsweise des Amts des Bayerischen Ministerpräsidenten während der NS-Zeit vorgelegt hat. Das Buch geht aus seiner Dissertation hervor, die er bereits 2013 am Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München eingereicht hat. Einen wichtigen Anstoß zu dieser Studie gab der Archivar und Historiker Hermann Rumschöttel bereits 2004 in dem umfangreichen Sammelband "Staat und Gaue in der NS-Zeit". Dieser Sammelband stellte bisher den umfassendsten Versuch dar, die Funktionsweise der bayerischen Staats- und Gauverwaltung im "Dritten Reich" differenziert zu beleuchten. In seinem Beitrag betonte Rumschöttel, dass eine "Wirkungsgeschichte" des Amts des Bayerischen Ministerpräsidenten in der NS-Zeit sowie eine politische Biographie von Ludwig Siebert in Zukunft "dringend erwünscht" seien [2].
Diese Forschungslücke hat Rittenauer mit seiner gut strukturierten Dissertation überzeugend geschlossen. Damit hat er auch über die bayerische Landesgeschichte hinaus Pionierarbeit geleistet, denn ausführliche Studien über die Rolle der Ministerpräsidenten im NS-Herrschaftssystem liegen bisher kaum vor [3]. Rittenauer untersucht mit einem die Zäsuren übergreifenden Ansatz sowohl die Amtsfunktion des Bayerischen Ministerpräsidenten in der Herrschaftspraxis des NS-Staats als auch die Biographien der Amtsinhaber. Zugleich nimmt er erstmals die Bayerische Staatskanzlei, ihre Funktion und ihr Personal ausführlich in den Blick der Forschung. Vom Amt des Ministerpräsidenten ausgehend analysiert er zugleich die Funktionsweise, Strukturen und Machtverhältnisse der bayerischen Staatsregierung und Ministerialverwaltung sowie die Reichsinnenpolitik in der NS-Zeit. Als Grundlage dient ihm das in der NS-Forschung bereits vielfach verwendete Konzept des "polykratischen Maßnahmenstaats".
Die Einleitung ist mit 85 Seiten recht umfangreich. Dafür beinhaltet sie aber wesentlich mehr als Fragestellung, Methode und Quellenüberlieferung. So erklärt Rittenauer, warum das Amt des Ministerpräsidenten in der NS-Zeit bisher in der Forschung kaum thematisiert worden ist. Zudem gibt er einen allgemeinen Überblick über die Position der Länderregierungen in der Weimarer Republik und im "Dritten Reich" und skizziert die Entwicklung des Amts des Bayerischen Ministerpräsidenten zwischen 1918 und 1945/1946. Im Gegensatz zu Preußen und Sachsen verfügte der Ministerpräsident in Bayern bis 1945 nicht über die sogenannte Richtlinienkompetenz. Die Nationalsozialisten stärkten zwar formell seine Position als Regierungschef, dennoch wurde er zu keinem Zeitpunkt "Führer der Landesregierung" (80). Diese Einordnung, die vor allem auf Sekundärliteratur basiert, bringt eine sehr wichtige Vergleichsperspektive in die Studie ein. Dennoch wäre es kompositorisch sinnvoller gewesen, sie im Hauptteil direkt in Bezug zu den eigenen Forschungsbefunden über Bayern zu setzen. Dies hätte der Darstellung insgesamt mehr Dynamik verliehen und direktere Vergleiche mit der Situation in anderen Ländern ermöglicht.
Der Hauptteil der Studie umfasst etwa 250 Seiten, die sich in drei Kapitel gliedern. Hier behandelt Rittenauer die Übergangszeit unter dem kommissarisch eingesetzten Franz Ritter von Epp im März und April 1933 sowie die Regierungszeit der Ministerpräsidenten Ludwig Siebert (1933-1942) und Paul Giesler (1942-1945). Am ausführlichsten geht er auf die Biographie und Regierungszeit Sieberts ein, was sowohl der Länge seiner Amtszeit als auch der Quellenlage geschuldet ist. Rittenauer liefert vielfältige Informationen zu den Regierungsmechanismen des NS-Staats und hat dafür eine beeindruckende Menge an Archivquellen ausgewertet.
Der Verfasser vertritt überzeugend die These, dass dem Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten im NS-Staat keine große Bedeutung zukam, sondern dass es gleichsam ein "Auslaufmodell" darstellte. Lediglich Hitlers Willkür bewahrte das Amt schließlich vor der definitiven Beseitigung (346). Diese schwache Position war einerseits das Resultat der fortdauernden Zentralisierungspolitik des NS-Regimes, die zu einem zunehmenden Kompetenzverlust des Bayerischen Ministerpräsidenten führte. Zugleich spielte auch Siebert selbst eine erhebliche Rolle. Der Ministerpräsident handelte zwar stets im Sinne des NS-Regimes und war ein überzeugter Anhänger Hitlers. Jedoch hatte er keine Machtbasis in der NSDAP und kombinierte sein Amt - im Gegensatz zum Großteil der anderen Ministerpräsidenten - nicht mit dem eines Gauleiters.
Trotz der zunehmenden Einschränkungen, die Siebert als Ministerpräsident unterworfen war, blieb ihm noch einiger Handlungsspielraum. Grund dafür war die langsame Umsetzung der Reichsreform. Siebert trug aus nationalsozialistischer Überzeugung aktiv zum Aufbau des NS-Staats bei. Weil er aber während seiner Amtszeit nicht mit der definitiven Umsetzung der Reichsreform rechnete, konnte er zugleich an seiner eigenen Vorstellung von einer bayerischen Landesregierung festhalten. So plädierte er noch 1942 für den Erhalt der traditionellen bayerischen Landesstrukturen im NS-Staat. Gerade von solchen Formen des "Eigensinns" ging im NS-Staat eine stark stabilisierende und aktivierende Wirkung aus. Rittenauer geht zwar auf diese Handlungsspielräume ein, hätte sie jedoch konzeptuell stärker auf den Punkt bringen können.
Dies wirft jedoch keinen Schatten auf den differenzierten Beitrag, den Rittenauer zur Funktionsweise der Landespolitik während der NS-Zeit geleistet hat. Nicht zuletzt hat er dabei gezeigt, dass das bayerische Staatswesen, wenn auch reduziert, während der NS-Zeit fortbestand. Dies bedeutet eine wichtige Revision von der früheren Sichtweise unter bayerischen Landeshistorikern. Mag das Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten während der NS-Zeit eine relativ unbedeutende Rolle gespielt haben, so ist Rittenauers Studie dazu umso bedeutsamer.
Anmerkungen:
[1] Bernhard Löffler: Landesgeschichtsschreibung und Geschichtspolitik nach 1945. Das bayerische Beispiel, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), 199-217.
[2] Hermann Rumschöttel: Ministerrat, Ministerpräsident und Staatskanzlei, in: Hermann Rumschöttel / Walter Ziegler (Hgg.): Staat und Gaue in der NS-Zeit. Bayern 1933-1945, München 2004, 41-75, hier 65.
[3] Eine wichtige Ausnahme ist der jüngst erschienene Band von Frank Engehausen / Sylvia Paletschek / Wolfram Pyta (Hgg.): Die badischen und württembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2019.
Rick Tazelaar