Martin Bühler: Von Netzwerken zu Märkten. Die Entstehung eines globalen Getreidemarktes (= Studien zur Weltgesellschaft; Bd. 5), Frankfurt/M.: Campus 2019, 196 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-50937-2, EUR 39,95
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Martin Bühler hat ein Buch geschrieben, dass die Entstehung des globalen Getreidemarktes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erklärt. Dass bei der "Verwandlung der Welt" [1] im 19. Jahrhundert globale Märkte entstanden sind, ist wohlbekannt, deren Merkmale hingegen seien allerdings ebenso unklar wie die "tatsächlich verantwortlichen Faktoren und die Erklärungen" ihrer Entstehung (156). Die 2017 an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern eingereichte Dissertation versteht sich als soziologische Studie, die disziplinär einer historischen Soziologie zugeordnet werden kann. Diese Ausrichtung schlägt sich in einem Fokus auf Akteure und deren Wirkungsmacht nieder, der einerseits über übliche marktsoziologische Fragestellungen hinausgeht. Andererseits zielt die Untersuchung dennoch auf die Definition allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten, was für eine historische Studie desselben Gegenstands untypisch wäre. Die gewählte Methode zur Genese einer Theorie der Entstehung globaler Märkte ist ein diachroner Vergleich des Getreidehandels um 1800 und um 1900, wobei die Vergleichszeiträume großzügig ausgelegt werden.
Klassisch sozialwissenschaftlich definiert der Autor vor Beginn der Analyse eine Markttheorie, die von der folgenden Empirie ausgekleidet wird. Märkte sind in Bühlers Lesart als Konkurrenzstrukturen zu verstehen. Sie konstituieren sich aus erwartbar wiederkehrenden Konkurrenzsituationen und gehen damit sowohl über Handel, der auch ohne Konkurrenz funktioniert, als auch über einzelne Konkurrenzsituationen hinaus (21f.). Drei Faktoren beeinflussen die Entstehung dieser konstitutiven Konkurrenz: die Möglichkeit des Vergleichs der angebotenen Waren, der Informationsübermittlung und eine Marktöffentlichkeit. Diese drei Faktoren werden zunächst anhand der Getreidemärkte um 1800 untersucht und anschließend anhand jener um 1900. In allen drei Dimensionen änderte sich die Reichweite der beteiligten Akteure enorm, worin für den Autor die diagnostizierte Globalisierung des Marktes begründet liegt. Getreidemärkte können um 1900 nicht länger als lokale Konkurrenzstrukturen mit globalen Handelsbeziehungen beschrieben werden, sondern als globale Konkurrenzstrukturen, in denen Angebote von allerorts miteinander verglichen und Marktinformationen synchron weltweit übermittelt werden konnten und zudem jedermann an jedem Ort potentieller Marktteilnehmer geworden ist.
Die mit 165 Seiten eher schmale Studie beruht auf der Analyse historischer Sekundärliteratur und kann als Medien- und Kulturgeschichte gelabelt werden. Als Hauptgrund für die Überwindung vormaliger Globalisierungshürden wird ausgemacht, dass sich die Marktteilnehmerinnen und -teilnehmer neue Kommunikationstechnologien angeeignet haben, die dazu führten, dass sie die Marktsituation als global wahrzunehmen begannen. Bühler bringt damit jeweils für sich bereits bekannte Phänomene in einen analytischen Zusammenhang: Die Standardisierung der Produkte, die Einführung der Telegrafie und die Entstehung neuer Medientypen werden zu kausalen Erklärungen für die geografisch fortschreitende Marktintegration - ohne dass sie ursprünglich zu diesem Zweck entwickelt worden wären. Historischer Kontingenz wird ihr Tribut gezollt.
Im Detail stellte sich die Entwicklung wie folgt dar: Während um 1800 ein Vergleich der Angebote über sinnliche Beurteilung und persönliches Körperwissen erreicht wurde, jede Ernte ein individuelles Gut war und der Vergleich die Anwesenheit vor Ort des beteiligten Marktteilnehmers verlangte, waren um 1900 Beobachtungs- und Vergleichspraktiken geschaffen worden, die Getreide zu einem weltweit vergleichbaren Produkt machten, ohne dass Anbieter oder Abnehmer das konkrete Korn tatsächlich vor Augen oder in der Hand gehabt haben mussten. Die Informationsübermittlung war um 1800 als interaktionsnahe Situation auf und um den Marktplatz herum beschränkt, weil Nachrichten noch nicht wesentlich schneller reisen konnten, als das Getreide selbst. Durch die Einführung der Telegrafie im Laufe des 19. Jahrhunderts konnten fortan Angebote auch von fernen Orten so schnell unterbreitet werden, dass sie als aktuell und gültig wahrgenommen wurden. Analog verbreiterte sich die imaginierte Marktöffentlichkeit: Während um 1800 nur den persönlich Anwesenden Kenntnis über die aktuelle Marktsituation unterstellt wurde, weil das Feilschgespräch das Mittel der Wahl zur Überprüfung der Preise war, kam um 1900 der gesamte Globus "als synchroner Geschäftshorizont" infrage (166). Der globale Getreidemarkt, so die diese Entwicklungen zusammenführende These, ist deshalb nicht durch eine graduelle Ausdehnung lokaler Märkte entstanden, sondern indem in einem relativ kurzen Zeitraum zwischen den 1860er- und 1880er-Jahren vormalige Globalisierungshürden durch Telegrafie und Standardisierung überwunden wurden.
Der Historikerin sticht die örtliche Beliebigkeit der Studie ins Auge. Zwar fallen die wichtigen Orte des modernen westlichen Getreidehandels - Amsterdam, Paris, Liverpool, London, Chicago, New York, St. Louis -, die Wahl der einzelnen empirischen Beispiele ist jedoch geografisch sprunghaft und wird nicht erklärt. Es werden jene Beispiele aufgeführt, die die Thesen stützen, ohne dass sie vom Geschehen her in Zusammenhang miteinander stünden. Die historische Empirie scheint deshalb stärker Illustration ausgemachter Gesetzmäßigkeiten zu sein, als dass diese aus ihr hervorgingen. Zudem wird einzelnen empirischen Anekdoten mehr Erklärungskraft aufgebürdet, als sie leisten können. Der amerikanische Kaufmann John M. D. Burrows, der im Sommer 1844 reichlich Kartoffeln (!) in Iowa einkaufte, um sie auf dem Mississippi einzuschiffen und in New Orleans mit Gewinn zu verkaufen, was ihm jedoch nicht gelang, weil dort die Preise bei Ankunft der Ladung durch inzwischen eingetroffene französische Kartoffeln gesunken waren, wird fünfmal (75, 77, 93, 120, 161) bemüht, um die kommunikativen Grenzen des Weizenmarktes (!) um 1800 (!) zu plausibilisieren. Der Wandel kommt in Bühlers Studie allein durch den diachronen Vergleich zustande, nicht durch ein Verfolgen der Handlungen einzelner Akteure. Besonders instruktiv sind die Deutungen der temporalen Veränderungen des globalisierten Getreidehandels, die jedoch nicht an die inzwischen recht breite historische Forschung zu Temporalität und Zeitstrukturen rückgebunden werden. [2]
Die durchweg sehr gut verständlich geschriebene Studie beginnt ab etwa der Hälfte an ihrer zunächst so vorbildlichen Leserführung zu kranken. Die zu Beginn hilfreichen Wiederholungen, um rasch in Inhalt und Methode einzusteigen, werden in der zweiten Hälfte des Buches zu entbehrlichen Redundanzen. Die Häufung von zusammenfassenden Abschnitten am Kapitelende, gesondert ausgewiesenen Zwischenfazits und dem zusätzlichen synthetisierenden Kapitel am Ende schmälern das Lesevergnügen stärker, als dass sie didaktischen Mehrwert bieten. Die Interdisziplinarität bleibt das Hauptverdienst von Martin Bühlers Studie, die sowohl für Historikerinnen und Historiker als auch für Soziologinnen und Soziologen mit Gewinn zu lesen ist. Sie hat das Potential, in beiden Fächern Studien anzuregen, die sich von der Stärke der jeweils anderen Disziplin inspirieren lassen: theoretisch fundierte historische und empirisch geerdete soziologische Analysen.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.
[2] Z. B. Vanessa Ogle: The Global Transformation of Time, 1870-1950, Harvard 2015; Alexis McCrossen: Marking Modern Times. A History of Clocks, Watches, and Other Timekeepers in American Life, Chicago 2013; Lucian Hölscher: Von leeren und gefüllten Zeiten. Zum Wandel historischer Zeitkonzepte seit dem 18. Jahrhundert, in: Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert (= GG Sonderheft; Bd. 25), hgg. von Alexander C. T. Geppert / Till Kössler, Göttingen 2015, 37-70.
Veronika Settele