Rezension über:

Anna Ullrich: Von "jüdischem Optimismus" und "unausbleiblicher Enttäuschung". Erwartungsmanagement deutsch-jüdischer Vereine und gesellschaftlicher Antisemitismus 1914-1938 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 120), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, XII + 350 S., ISBN 978-3-11-052913-5, EUR 54,95
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Rezension von:
Simon Walter
Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Simon Walter: Rezension von: Anna Ullrich: Von "jüdischem Optimismus" und "unausbleiblicher Enttäuschung". Erwartungsmanagement deutsch-jüdischer Vereine und gesellschaftlicher Antisemitismus 1914-1938, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/02/33184.html


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Anna Ullrich: Von "jüdischem Optimismus" und "unausbleiblicher Enttäuschung"

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Am 14. Februar 1933 notierte der seit 1908 in Palästina ansässige Arthur Ruppin Gedanken zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler in sein Tagebuch: ''Die Lage der Juden in Deutschland ist vom moralischen Gesichtspunkte schauderhaft. Ein katastrophaler Zusammenbruch aller Hoffnungen der liberalen Juden auf ihre Eingliederung in das deutsche Volk!'' [1] Um die Einordnung, Verschiebung und tatsächlich Verhandlung ebendieser Hoffnungen dreht sich die neue Monographie von Anna Ullrich. Dieselbe stellt eine Überarbeitung ihrer im Rahmen der Leibniz Graduate School ''Enttäuschung im 20. Jahrhundert. Utopieverlust - Verweigerung - Neuverhandlung'' entstandenen und 2016 in München angenommenen Dissertation dar. In Untersuchung jüdischer Vereinsarbeit in Deutschland soll sie nicht weniger als einen ''Perspektivwechsel'' bieten; ausgehend von der Annahme, ''dass Erwartungshorizonte und emotional codierte kollektive Erfahrungsdeutungen nicht voraussetzungslos existieren, sondern in sozialen Kommunikationsräumen geformt werden.'' (1) In Auseinandersetzung mit publizistischen und vereinsinternen Quellen will Ullrich ''die Aushandlungsprozesse rekonstruieren, welche die Erwartungen der jüdischen Minderheit an das Leben in Deutschland begleiteten und mitprägten.'' (2)

Ausdrücklich im Mittelpunkt der Arbeit steht der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV). In drei weitgehend chronologisch angelegten Kapiteln skizziert Ullrich dessen Arbeit während des Ersten Weltkriegs, in der Weimarer Republik und abschließend im NS-Staat - und vollzieht das ''Erwartungsmanagement'' (4f.) des Vereins gegenüber seinen Mitgliedern und der weiteren jüdischen Öffentlichkeit nach. Aktivitäten und Ansätze anderer Organisationen werden vor allem flankierend angeführt. Verständlich legt die Autorin in der Einleitung zunächst ihre Methodik dar und bietet anschließend einen Abriss des Forschungsstands. Im Kontext der seit Öffnung des Moskauer Sonderarchivs veränderten Quellenlage und konzeptionellen Verschiebungen innerhalb der Forschung in den letzten Jahren will Ullrich zeigen, dass die in der etablierten Forschung weitgehend getrennte Betrachtung des CV als sogenannter Abwehr- oder Gesinnungsverein zusammengeführt werden muss.

Im ersten Kapitel macht sie zunächst deutlich, wie schnell und wie routiniert der CV und andere Organisationen sich nach Beginn des Ersten Weltkriegs in ''Erwartungsdämpfung'' (23) übten. Mit Blick auf die interne wie die öffentliche Kommunikation jüdischer Vereine während der ersten Kriegshälfte stellt sie entgegen lange tradierter Forschungsmeinungen fest, ''dass es sich statt einer tatsächlichen eher um eine argumentative Kriegs- und Zukunftseuphorie deutscher Juden handelte''. (41) So sammelten Vereine etwa akribisch Berichte über antisemitische Vorgänge und Erlebnisse im Militär, verzichteten aber auf die Kommunikation deren Ausmaßes. Erst die ''Judenzählung'' im Oktober 1916 führte zur öffentlichen Auseinandersetzung mit einem nun als staatlich legitimiert empfundenen Antisemitismus. Während Ullrich an anderer Stelle die äußere Zäsur der ''Judenzählung'' einordnet [2], führt sie in ihrer Monographie aus, inwiefern insbesondere für den CV weniger der bloße Erlass des Kriegsministeriums, als ''die emotionale Reaktion innerhalb des deutschen Judentums'' (57) ausschlaggebend für ein strategisches Umdenken war. Gewinnbringend zeigt sie auf, dass sich noch während des Krieges eine Trennung zwischen der ''konkreten und metaphorischen Bedeutung und Erfahrung'' der ''Judenzählung'' vollzog und sich letztere als ''Metapher für die negativen Erfahrungen deutscher Juden vor wie hinter der Front'' (81) dauerhaft im Erwartungsmanagement des CV niederschlug.

Dasselbe wird im zweiten Kapitel anhand von ''Korrespondenzen'' nachvollzogen, ''welche die Mitarbeiter des CV mit Vertretern seiner Ortsgruppen, vor allem aber mit einzelnen Mitgliedern ebenso wie mit nicht affiliierten Personen, unterhielten''. (116) Einleitend skizziert und charakterisiert Ullrich diesen Quellenbestand und die Novität ihres Ansatzes gegenüber der bisherigen Forschung. An beispielhaften Schwerpunkten der Beratungstätigkeit des CV während der Weimarer Republik macht sie überzeugend deutlich, dass der entsprechende Schriftverkehr immer auch als ''Verhandlungsraum'' (129) über Wahrnehmung und Einordnung von Antisemitismus fungierte. Gleichzeitig bedeutete er eine ''Verantwortungsübermittlung'' (138) vom Einzelnen an den Verein und eine entsprechende emotionale Erleichterung.

Ullrichs methodischer Fokus auf das Erwartungsmanagement des CV erlaubt es ihr auch, öffentliche Stellungnahmen und Positionen des Vereins neu einzuordnen: ''Appelle an die nichtjüdische Bevölkerung'' und andere Instrumente der Abwehrarbeit seien nicht primär auf ihre äußerlichen Adressaten gemünzt gewesen, sondern sollten ''gegen die Resignation deutscher Juden vor den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland'' wirken. (224) Die Auseinandersetzung mit den politischen Verschiebungen zum Ende der Republik hin sollte die ''Verbundenheit, nicht nur mit Deutschtum und Deutschland, sondern auch mit der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung'' betonen [3] - bei gleichzeitiger Erwartungsdämpfung hinsichtlich etwaiger Unterstützung aus derselben. (235) Handlungsleitend stand dahinter das für den CV notwendige Festhalten an der ''problemlosen Vereinbarkeit von Judentum und Deutschtum.'' (240)

Entsprechend stellt Ullrich zu Beginn des dritten Kapitels das in der Forschung konstatierte und teils als zwangsläufig deklarierte Scheitern des Vereins teilweise infrage; denn zum Zeitpunkt der Machtübernahme hätten die Mitglieder den CV nicht als ''Abwehr- und Aufklärungsverein'', sondern vor allem als ''eine zentrale Austausch- und Beratungsinstanz für antisemitische Erfahrungen'' gesehen. (242) Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten die unterschiedlichen emotionalen Bedürfnisse der Mitglieder weiterhin bedienen, nicht zuletzt in Rückgriff auf ''ein Set an Verhaltens- und Bewältigungsstrategien [...] das sich auf den Erfahrungen der Weimarer Republik gründete.'' (246) Diese Dynamik änderte sich auch unter dem Eindruck der Nürnberger Gesetze nicht grundlegend; Ullrich benennt hier eine paradoxe ''Enttäuschungsresistenz, die es erlaubte, gegenüber Mitgliedern und Ratsuchenden weiterhin mit einer positiven Grundeinstellung aufzutreten - und diese einzufordern.'' (288) Treffend vermerkt sie zum Abschluss, dass der CV bereits vor 1933 eine tatsächlich seelsorgerische Funktion innehatte und daher auch in den letzten Jahren seines Bestehens versuchte, ''die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen mit, mehr oder weniger sinnstiftenden, Lesarten zu versehen.'' (314)

Mit ihrer Monographie legt Anna Ullrich eine Arbeit vor, die einerseits methodisch stringent und geschlossen ist und andererseits eine Vielfalt an Detaileindrücken bietet, die in einer Rezension nur unzureichend reflektiert werden kann. Der in der Einleitung skizzierte Perspektivwechsel zieht sich gewinnbringend durch das gesamte Werk. Kleinere begriffliche Stolperer und Kritikpunkte am Rande verwässern keineswegs den positiven Gesamteindruck der Arbeit, die sich in die zunehmend verjüngte und methodisch vielfältige Publikationslandschaft zur neueren jüdischen Geschichte einreiht.


Anmerkungen:

[1] Shlomo Krolik (Hg.): Arthur Ruppin. Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, Königstein/Ts. 1985, 443.

[2] Anna Ullrich: "Nun sind wir gezeichnet" - Jüdische Soldaten und die "Judenzählung" im Ersten Weltkrieg, in: Ulrike Heikaus / Julia B. Köhne (Hgg.): Krieg! Juden zwischen den Fronten 1914-1918, Berlin 2014, 215-238, hier 221-238.

[3] Vgl. Ullrichs Ausführungen in anderem Kontext über den selbstvergewissernden Effekt dahingehender Veröffentlichungen und Äußerungen (Anna Ullrich: Fading Friendships and the 'Decent German'. Reflecting, Explaining and Enduring Estrangement in Nazi Germany, 1933-1938, in: Frank Bajohr / Andrea Löw (eds.): The Holocaust and European Societies. Social Processes and Social Dynamics (The Holocaust and its Contextes), London 2016, 17-31, hier 21-27).

Simon Walter