Rezension über:

Rosario Forlenza: On the Edge of Democracy. Italy, 1943-1948, Oxford: Oxford University Press 2019, VII + 278 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-881744-4, GBP 65,00
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Rezension von:
Nikolas Dörr
Bremen
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Nikolas Dörr: Rezension von: Rosario Forlenza: On the Edge of Democracy. Italy, 1943-1948, Oxford: Oxford University Press 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/02/33451.html


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Rosario Forlenza: On the Edge of Democracy

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"On the edge of democracy" hat der italienische Historiker Rosario Forlenza seine Monografie über die relative kurze, aber äußerst intensive Periode der italienischen Geschichte zwischen 1943 und 1948 benannt. Der Titel ist durchaus passend. In diesen fünf Jahren machte der südeuropäische Staat eine radikale Transformation vom faschistischen System Benito Mussolinis bis hin zur italienischen Nachkriegsdemokratie inklusive der Abschaffung der Monarchie nach der Volksabstimmung am 2. und 3. Juni 1946 durch. Der Weg zur Demokratie war jedoch keineswegs vorgezeichnet und geradlinig.

Mit dem Fokus auf die halbe Dekade Mitte der 1940er Jahre knüpft der Autor an die in der historischen Forschung seit Jahrzehnten etablierte Schwerpunktsetzung an [1]. Forlenza orientiert sich entsprechend an den bereits in anderen Publikationen analysierten Schlüsselmomenten und Konfliktlinien. Zu nennen sind hierbei vor allem der in den letzten Jahren in der Forschung zunehmend relativierte Beitrag des italienischen Widerstands (Resistenza) an der Befreiung vom Faschismus, die Absetzung Mussolinis im Juli 1943, die Bedeutung der faschistischen Repubblica Sociale Italiana (RSI), die Entscheidung über die künftige Staatsform, der US-amerikanische Einfluss und schließlich die Auseinandersetzung zwischen politischen Katholizismus und Kommunismus, die in der Parlamentswahl am 18. April 1948 deutlich zugunsten der westlich orientierten Democrazia Cristiana unter Alcide De Gasperi entschieden wurde [2].

Innovativ ist Forlenzas methodischer Ansatz, der sich insbesondere an dem Politikwissenschaftler und Historiker Harald Wydra (University of Cambridge) orientiert [3]. Forlenza will die Transformation der faschistischen Diktatur zur republikanischen Demokratie als Alltags- und Mentalitätsgeschichte schreiben. In Abgrenzung zum Großteil der Forschungsliteratur analysiert er die Demokratisierung daher als einen Bottom-up-Prozess: "My central argument is that democracy is more than a specific system for exercising political authority; instead, it is primarily a process of meaning-formation and a quest for meaning and a new frame of reference undertaken in a context of existential uncertainty"(2). Forlenza will seinen methodischen Ansatz umsetzen, indem er bislang unveröffentlichte Ego-Dokumente aus dem italienischen Tagebucharchiv (Archivio Diaristico Nazionale) sowie autobiografische Berichte, vor allem von Mitgliedern der Kommunistischen Partei Italiens, nutzt (17). Zu kritisieren ist, dass der Monografie kein Verzeichnis der benutzten Archivalien im Anhang beigefügt ist.

Seiner Methodik folgend grenzt sich der Autor von den in hohem Maße auf die italienische Parteiendemokratie fokussierenden Forschungen zur Transitionsphase 1943 bis 1948 ab. Entscheidend für die Demokratisierung seien vielmehr, so der Autor, die individuellen Erfahrungen in der Phase seit der Absetzung Mussolinis gewesen, die durch mehrfache Unsicherheiten gekennzeichnet waren. Insbesondere der Wegfall des Faschismus, der für mehr als zwei Jahrzehnte den zentralen Orientierungspunkt dargestellt hatte, hätte zu einem "empty place of power" geführt (7). Innerhalb weniger Jahre mussten die Italienerinnen und Italiener in dieser durch Unsicherheiten gekennzeichneten Phase grundsätzliche Entscheidungen treffen, die die zukünftige Demokratie prägten: Kollaboration oder Widerstand, für oder gegen die RSI, neue politische Orientierung, pro oder contra Kommunismus, Neubewertung der Rolle der Katholischen Kirche, Akzeptanz eines neuen Frauenbilds einschließlich der Einführung des Frauenwahlrechts 1946, Monarchie oder Republik usw.

Der Autor zeichnet die persönlichen Entwicklungen, häufig anhand von Tagebucheinträgen, nach und macht dadurch die Mehrheitsentscheidung für ein demokratisches Italien an der Basis nach den prägenden Erfahrungen von Krieg und faschistischer Diktatur nachvollziehbar. Positiv hervorzuheben ist die Hinzuziehung von kulturgeschichtlichen Quellen wie Filmen und populären Liedern. Forlenza unterstreicht seine Analysen darüber hinaus mit zahlreichen politischen Plakaten und Flugblättern. Einschränkend muss jedoch erwähnt werden, dass ein Farbdruck zumindest für einige der Abbildungen sinnvoll gewesen wäre, um dem Leser bzw. der Leserin die entsprechende Farbsymbolik (u.a. Kommunismus = rot = Gefahr) stärker zu verdeutlichen.

"On the edge of democracy" schreibt die bestehenden Forschungen zur Transformation Italiens und zum Beginn der ersten Republik nicht um, da sich die Monografie an den bereits bekannten und etablierten Konfliktlinien entlangarbeitet. Der Vorteil liegt in der neuen Perspektive auf die Jahre 1943 bis 1948. Während die vorliegenden Arbeiten primär auf die Rolle der Parteien und die außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitische Westorientierung im Zuge des beginnenden Kalten Krieges fokussieren, analysiert Forlenza den Demokratisierungsprozess überzeugend und nachvollziehbar von unten. Kritisch anzumerken ist, dass das Werk zwar eine Erklärung für die weitgehende Akzeptanz der italienischen Demokratie (und auch Republik) in den Folgejahrzehnten liefert. Die Ursache ihrer Defizite, so unter anderem massive Korruption, Nepotismus und Klientelismus, die eine kontinuierliche Begleiterscheinung der italienischen Demokratie wurden und 1994 zum Zusammenbruch der ersten Republik führten, wird hingegen kaum klarer.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Massimo L. Salvadori: Italy 1943-1948/Italia 1943-1948. From Catastrophe to Reconstruction / Dalla Catastrofe Alla Ricostruzione, Rom 2014; Aldo G. Ricci / Pino Bongiorno: La rinascita dei partiti politici in Italia 1943-1948, Rom 2009; Gianfranco Pasquino: The Demise of the First Fascist Regime in Italy's Transition to Democracy, 1943-1948, in: Guillermo O'Donnell / Philippe C. Schmitter / Laurence Whitehead (eds.): Transitions from Authoritarian Rule. Comparative Perspectives, Baltimore / London 1986, 45-70; Giorgio Vaccarino: Die Wiederherstellung der Demokratie in Italien (1943-1948), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 21 (1973), 285-324.

[2] Vgl. Hans Woller: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, München 1996; Ray Moseley: Mussolini. The Last 600 Days of il Duce, Dallas u. a. 2004; John L. Harper: America and the Reconstruction of Italy, 1945-1948, Cambridge u. a. 1986; David I. Kertzer: Comrades and Christians. Religion and Political Struggle in Communist Italy, Cambridge u. a. 1980; Edoardo Novelli: Le elezioni del Quarantotto. Storia, strategie e immagini della prima campagna elettorale repubblicana, Rom 2008.

[3] Harald Wydra: Communism and the Emergence of Democracy, Cambridge u. a. 2007.

Nikolas Dörr