Petra Betzien: Krankenschwestern im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst an den Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett (= Pflegegeschichte; Bd. 1), Frankfurt am Main: kula Verlag Dr. Edgar Bönisch 2018, 599 S., 20 Abb., ISBN 978-3-945340-11-0, EUR 64,00
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Die umfangreiche Studie über die Rolle von Krankenschwestern im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager ist auch für Spezialisten keine einfache Lektüre. Sie entstand 2017 als Dissertation im Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften der Fernuniversität Hagen. Die Historikerin Petra Betzien, die im Bereich des Krankenhauswesens arbeitet, dokumentiert und bewertet darin das Handeln von Krankenschwestern, die ihren Dienst in nationalsozialistischen Konzentrationslagern verrichteten. Dabei vergleicht sie zwei unterschiedliche Arbeitswelten innerhalb des Lagersystems: die Tätigkeit der Pflegerinnen im Rahmen der medizinischen Versorgung der Opfer in den Häftlingsrevieren der Frauenkonzentrationslager auf der einen und ihr Wirken in den SS-Lazaretten, die für die ärztliche Behandlung der SS-Angehörigen im Bereich der Konzentrationslager errichtet wurden, auf der anderen Seite.
Die von Betzien untersuchten Krankenschwestern wurden nur in Frauenkonzentrationslagern eingesetzt. Für männliche Häftlinge gab es keine Pflegedienste der SS. In den Männerlagern standen Unteroffiziere des SS-Sanitätsdienstes den SS-Ärzten zur Seite und kamen vor allem bei Aktionen, wie der Selektion vor der Ermordung oder der Tötung durch Giftinjektionen zum Einsatz. Hilfe für die kranken Häftlinge kam hier nur von unter den Mitgefangenen ausgewählten Pflegern und Ärzten.
Das Buch beginnt mit einem Abriss über Entstehung und Entwicklung des Berufs der Krankenschwester in Deutschland vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum Jahr 1933. Frauenbild und Berufsethos, dem Selbstlosigkeit und Aufopferung zugrunde lagen, erfuhren in diesem Zeitraum kaum Veränderungen.
Mit Einführung der nationalsozialistischen Staatsdoktrin wurde dann allerdings die Rassenideologie wesentlicher Bestandteil auch für den Bereich der Medizin. Die sogenannte Rassenhygiene veränderte das Berufsbild der Krankenschwestern, das bis dahin durch ein humanistisches Menschenbild geprägt war, grundlegend. Der Schwesternberuf wurde umorganisiert, die unterschiedlichen Verbände wurden zusammengefasst sowie den rassenbiologischen Zielen des NS-Regimes verpflichtet und angepasst. Damit waren die Grundlagen für die Mittäterschaft von Krankenschwestern bei den Verbrechen des NS-Staates im Bereich der Medizin geschaffen. Diese reichten von Geburtenkontrolle und Zwangssterilisierungen, über die Vertreibung und Ermordung jüdischer Kollegen und Kolleginnen, die organisatorische Vorbereitung des Vernichtungskriegs bis hin zur massenhaften Ermordung von Kranken als "unwertes Leben".
Im Sommer 1934 entstand auf Befehl Heinrich Himmlers die "Inspektion der Konzentrationslager" als zentrale Verwaltungsbehörde für alle Konzentrationslager. Deren Abteilung "Standortarzt" war für alle Fragen der medizinischen Versorgung in den Lagern zuständig.
Nahezu 200 Seiten widmet Betzien den im Auftrag der SS handelnden Krankenschwestern im Gefangenenrevier des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück. Die beiden Vorläufer von Ravensbrück, die Lager Moringen (1933-1937) und Lichtenburg (1937-1939), werden aufgrund fehlender Quellen nur kurz behandelt. Da einzig Aussagen von überlebenden Häftlingsfrauen zur Verfügung stehen, hält die Autorin eine Beurteilung des Handelns der Krankenschwestern in diesen beiden Frauenkonzentrationslagern für nicht mehr möglich.
Das im Mai 1939 in Betrieb genommene und bis April 1945 bestehende Lager Ravensbrück war das größte Frauenkonzentrationslager im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich. Bis Kriegsende wurden dorthin und in seine 40 Außenlager mindestens 120.000 Frauen aus 30 Ländern sowie rund 20.000 Männer und etwa 1.000 Jugendliche verschleppt. Man geht von mindestens 25.000 Häftlingen aus, die im Lagerkomplex Ravensbrück zu Tode kamen. Betzien arbeitet die Geschichte des Häftlingskrankenreviers und der dort im Auftrag der SS handelnden Krankenschwestern trotz der in vielen Bereichen fehlenden Quellen detailreich auf. Sie schildert die Aufgabenzuteilung, rekonstruiert exemplarisch berufliche Karrieren und untersucht die aktive Beteiligung der Schwestern an der "Krankenversorgung" im Revier, das im Verlauf des Kriegs immer mehr zum Sterbeort und zur Mordstätte wurde. Die Krankenschwestern wirkten im Lager an der Ermordung von Kranken, an den medizinischen Versuchen und an der Selektion arbeitsunfähiger Häftlingen zwecks Ermordung in Tötungseinrichtungen mit. Sie waren zwar für die Zustände in den Häftlingsrevieren, die zunehmend von katastrophalem Mangel in allen Bereichen bestimmt waren, nicht verantwortlich, sie passten sich jedoch - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - in ihrer gleichgültigen, abwertenden Haltung gegenüber den Häftlingen reibungslos der nationalsozialistischen Doktrin an. Die Häftlinge fürchteten die Krankenschwestern ebenso sehr wie die Aufseherinnen.
Die Lazarette zur medizinischen Versorgung der SS-Angehörigen und ihrer Familien in den Konzentrationslagern waren, obwohl im gleichen Bereich angesiedelt, eine gänzlich andere Welt. Sie glichen entsprechenden Einrichtungen der Wehrmacht und waren wie zivile Krankenhäuser organisiert. Die Zahl der bei Kriegsbeginn bestehenden vier Lazarette erhöhte sich bis zum Jahr 1944 auf 15 Einrichtungen mit 3.500 Betten. In Auschwitz etwa gab es sowohl im Stammlager (Auschwitz I) wie auch in Birkenau (Auschwitz II) und Monowitz (Auschwitz III) jeweils ein SS-Lazarett. Auch hierfür wertet Betzien die spärlich erhaltenen Quellen aus, die Aufschluss über die Rolle der Pflegerinnen geben. Sie zeichnet Berufswege nach und fragt nach der Wahrnehmung der Verbrechen an den Gefangenen durch die Schwestern und ihre eventuelle Beteiligung daran. Anhand einer in Auschwitz entstanden Fotoserie zeigt Betzien die Verbundenheit der Pflegerinnen mit den SS-Angehörigen. Auch in SS-Lazaretten in Konzentrationslagern war die Haltung der Krankenschwestern gegenüber den Häftlingen feindselig, das Massensterben und -morden in unmittelbarer Nähe ignorierten sie oder sie verhielten sich gleichgültig.
Abschließend wird die Nachkriegsgeschichte der Krankenschwestern beleuchtet, die in den Konzentrationslagern gearbeitet hatten. Anhand des Verlaufs mehrerer Prozesse vor britischen Militärgerichten, in denen auch Pflegerinnen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück angeklagt und verurteilt wurden, der öffentlichen Berichterstattung sowie späterer Zeugenaussagen analysiert die Autorin Verhalten und Verteidigungsstrategien der Krankenschwestern nach 1945.
Als Fazit hält Betzien fest, dass sich das Verhalten der Krankenschwestern in den Konzentrationslagern und auch ihr Umgang mit der Vergangenheit nach dem Krieg nicht von dem anderer Personengruppen unterschied, die in die Verbrechen verstrickt waren. Verdrängung, Leugnung und Flucht in die eigene Opferrolle dominierten. Und es gab nur ganz wenige Ausnahmen, wie die in Auschwitz tätige österreichische Schwester Maria Stromberger, die sich entschieden auf die Seite der Opfer schlugen.
Die Studie bietet eine immense Materialsammlung, die zum ersten Mal die Geschichte der Krankenschwestern, die in den Konzentrationslagern im Auftrag der Täter agierten, bündelt und ihre Rolle eindeutig negativ beurteilt. Trotzdem ist festzustellen, dass die ausschließliche Fokussierung auf die im Ganzen gesehene sehr kleine Gruppe der Krankenschwestern dem Ausmaß der Tragödie, die sich in den Häftlingsrevieren der Konzentrationslager abspielte, nicht gerecht werden kann. Der Leser benötigt Vorwissen über das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, um die Ergebnisse der Studie angemessen einordnen zu können.
Barbara Distel