Christian Henrich-Franke / Claudia Hiepel / Guido Thiemeyer et al. (Hgg.): Grenzüberschreitende institutionalisierte Zusammenarbeit von der Antike bis zur Gegenwart (= Historische Dimensionen Europäischer Integration; Bd. 30), Baden-Baden: NOMOS 2019, 448 S., ISBN 978-3-8487-6030-5, EUR 89,00
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Was ist unter grenzüberschreitender institutionalisierter Zusammenarbeit zu verstehen? Eine erste Idee vermittelt das Titelbild des vorliegenden Bandes. Es zeigt ein Ortsschild an der deutsch-niederländischen Grenze, auf dem die enge Verflechtung in dieser Region mit einem Wortspiel zum Ausdruck gebracht wird: Aus der niederländischen Gemeinde Dinxperlo und der deutschen Gemeinde Suderwick wird auf dem abgebildeten Wegweiser der Phantasieort "Dinxperwick". Tatsächlich geht es in dem Sammelband aber um deutlich mehr als um grenzüberschreitende - in Sinne von nachbarschaftlicher - Kooperation.
Generell befassen sich die Autorinnen und Autoren sowohl mit politischen und gesellschaftlichen als auch mit wirtschaftlichen und infrastrukturellen Entwicklungen. Dabei decken die 15 Beiträge einen sehr weit gefassten zeitlichen und geographischen Rahmen ab: angefangen von der Peloponnes im 5. Jahrhundert (Sebastian Scharff), über die Hanse im Spätmittelalter (Kilian Baur) sowie das russländisch-polnisch-preußische Grenzgebiet im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert (Jan Musekamp), bis hin zu multi-, trans- bzw. supranationalen Zusammenhängen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (z. B. Henning Türk oder Sonja Dolinsek).
Grundsätzlich will der Band einen sowohl inter- als auch intradisziplinär vernetzten Blick auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit werfen. Verwiesen wird zum einen auf das Austauschpotential mit der sozialwissenschaftlichen Governance-Forschung. Zum anderen erteilen die Herausgeber der strikten Unterscheidung zwischen internationaler und transnationaler Geschichte eine Absage. Als Grenzen werden nicht nur nationalstaatliche Grenzen betrachtet, sondern auch ethnische, kulturelle, geographische oder ökonomische Trennlinien. Diese sehr breite Definition hat zur Folge, dass die einzelnen Beiträge sich nur bedingt unter ein gemeinsames gedankliches Dach fügen.
Einige der Beiträge beschäftigen sich mit grenzüberschreitender institutionalisierter Arbeit im engeren Sinne. Das trifft zum Beispiel auf den Aufsatz von Claudia Hiepel zur grenzüberschreitenden Kooperation in der Europäischen Union zu. Basierend auf einigen allgemeinen Aussagen zur Funktion von Euroregionen widmet sich Hiepel der Entwicklung der 1958 gegründeten deutsch-niederländischen EUREGIO. Untersucht wird unter anderem die Zusammenarbeit auf verschiedenen Politikfeldern: Während Kooperationen im Bereich Kultur und Soziales relativ leicht zustande kamen, war die grenzübergreifende Raumplanung lange Zeit ein "sensibles Thema" (85), da diese als nationale, die Souveränität der Länder betreffende Aufgabe verstanden wurde. Alles in allem definiert Hiepel die Zusammenarbeit in der EUREGIO als regionale Governance, gekennzeichnet durch bottom-up-Verfahren sowie das Zusammenspiel einer Vielzahl von Ebenen und Akteuren. Die Existenz von Euroregionen wertet Hiepel grundsätzlich als "Beleg für eine Europäisierung der Regionen" (95), betont aber gleichzeitig, dass dadurch das Fortbestehen der nationalstaatlichen Grenzen nicht in Frage gestellt werde.
Ein weiterer Beitrag, der klar zum Thema der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit passt, ist der von Martina Sochin D'Elia zum 1923 geschlossenen schweizerisch-liechtensteinischen Zollanschlussvertrag, der aus den beiden Nachbarländern einen einheitlichen Zoll- und Wirtschaftsraum machte. Die Tatsache, dass der Vertrag - mit wenigen Abänderungen - bis zum heutigen Tage gültig ist, ermöglicht der Autorin eine längerfristige Analyse. Außerdem erlaubt das Fallbeispiel, Besonderheiten einer Kooperation zweier "Kleinstaaten" (302) zu untersuchen, zwischen denen wiederum ein deutliches Größengefälle besteht. Das zentrale Ergebnis ist, dass Liechtenstein mit dem Vertragsabschluss "Teile seiner Souveränität zum wirtschaftlichen Wohl des Landes in die Waagschale warf" (322). Im Laufe der Jahrzehnte konnte das Fürstentum aber - parallel zu seinem steigenden Wohlstand - auch Souveräntitäts(rück)gewinne verzeichnen. Letztendlich erachtet es Sochin D'Elia aber als "fraglich, inwieweit ein Kleinstaat wie Liechtenstein überhaupt seine vollständige Souveränität beanspruchen kann" und verweist abschließend auf eine heute bestehende "über die Grenze reichende regionale Identität" zwischen den beiden Ländern (323).
Zu den Beiträgen, bei denen die Zugehörigkeit zum Rahmenthema grenzüberschreitende Zusammenarbeit nur bedingt nachvollziehbar ist, gehört beispielsweise der von Sabrina Kirschner über die Entwicklung des (Ab-)Wassersektors in São Paulo in den 1950er bis 1970er Jahren. Grenzen bzw. deren Überschreitung werden hier in einem politisch-administrativen Sinne definiert. Konkret behandelt der Aufsatz die Zusammenarbeit zwischen städtischen Entscheidungsträgern und anderen Governance-Ebenen, inklusive internationalen Akteuren wie der Weltbank. Kirschners einleuchtende Schlussfolgerung lautet, dass diese Kooperation vor allem "unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungshilfe" stattfand und dass dabei "ein asymmetrisches Machtverhältnis" bestand (186). Der Mehrwert, eine solche zeithistorisch ausgerichtete Governance-Analyse unter den Begriff der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu stellen, ist jedoch nicht klar erkennbar.
Ähnliche Probleme ergeben sich beim Beitrag von Magda Schwandt, in dessen Fokus die vom böhmischen König Georg von Podiebrad in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts angestrebte Friedensliga steht, eine Vereinigung der wichtigsten Herrscherpersönlichkeiten der damaligen Zeit. Diese Vereinigung kam de facto nie zustande, weshalb sie die Autorin als das "erste Bemühen um ein institutionalisiertes Europa" (215) interpretiert. In ihren Ausführungen zum geplanten Charakter und zum Aufbau der Friedensliga kommt sie zu dem Schluss, dass das Projekt eine Bedrohung für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation dargestellt hätte. Dieses wäre nämlich durch die Entstehung eines "Landfriedenbund[s] sui generis", dem bereits bewährte weltliche Herrschaftsstrukturen zugrunde lagen, obsolet geworden (237). Schwandts Ausführungen sind in vielerlei Hinsicht anregend, zum Beispiel was die Frage angeht, wie sich auswärtige Beziehungen in einem Zeitalter ohne Staaten bzw. Staatsgrenzen definieren lassen. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob der Aufsatz unmittelbar zum Erkenntnisgewinn in Sachen grenzüberschreitender institutionalisierter Zusammenarbeit beiträgt.
Insgesamt liefert der Band eine Fülle von Beiträgen, deren Qualität - wie in beinahe jedem anderen Sammelwerk auch - zum Teil mehr und zum Teil weniger überzeugt. Ganz unabhängig davon wäre es von Vorteil gewesen, weniger, aber dafür thematisch besser aufeinander abgestimmte Aufsätze aufzunehmen. Dadurch wäre der Band zwar schmaler, hätte aber an Aussagekraft und -schärfe gewonnen. Vielleicht hätte es aber auch bereits gereicht, ein anderes Rahmenthema für das Sammelwerk zu wählen. Als Impuls, transnationale und internationale Geschichte neu zu denken oder Synergien zwischen diesen Unterdisziplinen zu suchen, hätte man die vielfältigen Beiträge wahrscheinlich einfacher zusammenfassen können. Dennoch macht der Band deutlich, dass eine eingehendere historische Auseinandersetzung mit grenzüberschreitenden Kooperationen zwischen benachbarten Staaten, Regionen oder anderen Akteuren durchaus Potential hat.
Eva Schäffler