Maria von Loewenich: Amt und Prestige. Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711-1806) (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 72), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 276 S., ISBN 978-3-412-22121-8, EUR 50,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Verena Kasper-Marienberg: "vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-Thron". Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765-1790), Innsbruck: StudienVerlag 2012
Annemone Christians: Das Private vor Gericht. Verhandlungen des Eigenen in der nationalsozialistischen Rechtspraxis, Göttingen: Wallstein 2020
Anja Amend-Traut / Josef Bongartz / Alexander Denzler u.a. (Hgg.): Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020
Dominik Kirschvink: Die Revision als Rechtsmittel im Alten Reich, Berlin: Duncker & Humblot 2019
Maximilian Becker: Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den eingegliederten Ostgebieten 1939-1945, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2014
Mit dem vorliegenden Band von Maria von Loewenich erscheint eine weitere grundlegende Studie zum Personal des Reichskammergerichts (1495-1806), des höchsten Zivilgerichtes des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in der Wetzlarer Zeit (1689/90-1806). Die von Loewenich untersuchte Personengruppe der "Kammerrichter" ist dabei nicht mit den Urteilern oder Entscheidern am Gericht zu verwechseln, vielmehr sind mit den "Kammerrichtern", modern gesprochen, die Präsidenten des Gerichts gemeint.
Ziel der bei Barbara Stollberg-Rilinger entstandenen Dissertation ist es, zu zeigen, dass der Kammerrichter einerseits als Stellvertreter des Kaisers die höchstrichterliche Funktion des Kaisers im Reich wahrnahm (15). Gleichzeitig stand er einer Institution vor, an der, über die Besetzung der Stellen der Urteiler (also Richter im heutigen Sinne), die Reichsstände beteiligt waren. Daraus entstand, so die These von Loewenichs, ein Spannungsverhältnis, das die Autorin in ihrer Dissertation aus verfassungs-, sozial- und kulturhistorischer Perspektive untersuchen will (15). Ein Unterfangen, das hervorragend gelingt.
Loewenich geht das Thema traditionell an. Zuerst erhält der Leser einen Einblick in Quellen und Literatur. Dann informiert sie über die formalen Kriterien des Kammerrichteramtes. So waren im 16. Jahrhundert Kaiser und Erzkanzler des Reiches auf unterschiedliche Weise an der Besetzung des Amtes beteiligt. Im Laufe des 17. Jahrhunderts gelang es den Kaisern schließlich, die Einsetzung des Kammerrichters in einen kaiserlichen Herrschaftsakt umzuwandeln. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich Reichsstände und Gericht das Heft so leicht nicht aus der Hand nehmen ließen. Vielmehr gelang es den Vertretern der Reichsstände zu Anfang des 18. Jahrhunderts durchzusetzen, dass bei Vakanz des Amtes die Stellvertreter des Kammerrichters, die Präsidenten, zum Zuge kamen. Somit war das Eingriffsrecht des Kaisers eingeschränkt. Das Gericht durfte außerdem den vorgesehenen Kammerrichter examinieren, d. h. ihn nach seinem Werdegang und seiner Eignung für das Amt befragen. Auch wenn das Gericht tatsächlich einen vom Kaiser ernannten Richter nicht ablehnen konnte (53), wurde so die Bedeutung und das Mitspracherecht des Gerichts offensichtlich demonstriert. Von Loewenich kann damit schlüssig den Weg aufzeigen, wie das Kammerrichteramt eine von der Person des Kaisers und des Erzkanzlers unabhängige Institution wurde.
In einem zweiten Teil untersucht Loewenich dann die persönlichen Beziehungen der Kammerrichter zum Gericht, zum Kaiser, zur eigenen Familie sowie zu den Standesgenossen. Sie arbeitet dabei heraus, dass es zwei unterschiedliche Kategorien von Familien gab, die für das Kammerrichteramt prädestiniert schienen. Zum einen handelte es sich um Kammerrichter aus reichsgräflichen Familien, die meist durch eine Erhebung in den Fürstenstand für ihren richterlichen Einsatz belohnt wurden. Zum anderen gab es auch reichsfreie und landständische Familien, denen es gelang, auf einem solchen hochrangigen Posten Familienmitglieder zu positionieren. Diese Kammerrichter hatten sich Kenntnisse über die Rechtsgeschäfte im Reich als Stellvertreter des Kammerrichters erworben und erschienen deshalb für das Amt besonders prädestiniert. Eine Nähe zum Kaiser bestand bei diesen Personen aber nicht.
Entscheidend für das Amt des Kammerrichters war ökonomisches Kapital: So musste ein erhebliches Vermögen in die Erreichung des Amtes selbst investiert werden. Einmal ist hier von 10.000 fl. (152) die Rede. Außerdem galt es, den laufenden Unterhalt am Gerichtsort selbst zu gewährleisten. So waren gleich zwei entsprechende Hofhaltungen zu bestreiten: in Wetzlar und am eigenen Heimatort (153). Dies erklärt auch, warum die Wohnungen der Kammerrichter in Wetzlar eher bescheiden blieben. Hier hätte die Rezensentin gerne noch etwas mehr erfahren.
Diesem offensichtlichen Verlustgeschäft stand der symbolische Gewinn der Familie durch die Tätigkeit des Kammerrichters als kaiserlicher Repräsentant gegenüber. Die Qualifikation und Leistungsfähigkeit des Kammerrichters traten gegen persönliche Protektion und Fürsprache hoch gestellter Personen zurück. Hinzu kam die indirekte Einflussnahme der Kammerrichter im Verfahren, bzw. das Recht, die Referenten für den jeweiligen Fall zu bestimmen (191) - ein Vorgang, den Loewenich als soziales Kapital bezeichnet. Das bedeutete, dass der Kammerrichter das Verfahren zu Gunsten einer Partei in eine bestimmte Richtung lenken konnte. Dies führte wiederum dazu, dass sich eine Normenkonkurrenz herausbildete, der die Kammerrichter je nach Persönlichkeit und Familie unterschiedlich begegneten. So wurde der Kammerrichter häufig mit Forderungen konfrontiert, die seiner Klientel, aber nicht dem Gericht dienten, z. B. bei der Besetzung von Richterstellen (207). Hier war Fingerspitzengefühl gefragt, denn ein falsches Verhalten konnte zum Verlust von Ehre, Reputation und Teilhabe an den kaiserlichen Ressourcen führen. Gerade die Einstellung der Arbeit des Gerichts im Frühjahr 1704, die dann mehrere Jahre andauern sollte, zeigt die Gefahr eines Konflikts, wenn Kammerrichter, Kaiser und Gericht sich über die Besetzung eines Richteramtes nicht einigen konnten.
Genauso gefährlich war Korruption oder Bestechung. Loewenich unterscheidet hier zwischen ad-hoc-Bestechung und Korruption, bei der zwar eine Gegengabe erwartet wurde, diese aber nicht sofort fällig wurde (216). Ad-hoc-Bestechungen waren vor allem unter dem Kammerrichter von Hohenlohe-Bartenstein (216) häufig.
Abschließend stellt von Loewenich fest, dass die strategische Nutzung des Amtes durch die Kammerrichter der speziellen Ökonomie der Ständegesellschaft diente, aber die Autonomie des Gerichts beschränkte und sich so delegitimierend auf die Urteile des Reichskammergerichts auswirkte. Der Vorwurf der Einflussnahme durch die Zeitgenossen konnte so nie wirklich ausgeräumt werden (277).
Das sorgfältig recherchierte Buch füllt eine wichtige Lücke in unserem Wissen um die juristische Elite des Reiches im 18. Jahrhundert. Es zeigt zudem differenziert den Gegensatz zwischen den Funktionsprinzipien der ständischen Gesellschaft und der sich ausdifferenzierenden Reichsgerichtsbarkeit und spiegelt so die komplexe Widersprüchlichkeit des Reiches anschaulich wider.
Anette Baumann