Iwona Kurz / Renata Makarska / Schamma Schahadat u.a. (Hgg.): Erweiterung des Horizonts. Fotoreportage in Polen im 20. Jahrhundert (= Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte; Bd. 4), Göttingen: Wallstein 2018, 416 S., 167 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3302-4, EUR 32,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Die Fotoreportage in Polen - eine terra incognita. Mit diesem Statement problematisieren die Herausgeber des Sammelbandes den Kenntnisstand der polnischen Fotografiegeschichte in der deutschsprachigen Forschung drei Jahrzehnte nach dem politischen Umbruch. Ausgehend von einer 2016 in Mainz abgehaltenen Tagung zur Fotoreportage in Polen im 20. Jahrhundert widmen sie sich der Aufgabe, den Forschungshorizont in diesem Feld zu erweitern. Dies wird in zweifacher Hinsicht eingelöst. Zum einen berücksichtigen die Herausgeber insbesondere Beiträge aus der polnischsprachigen Forschung - neun der insgesamt 15 Aufsätze sind Übersetzungen aus dem Polnischen. Zum anderen führen sie noch wenig erforschte Bildkorpora, die für die Entwicklung der polnischen Fotoreportage wegweisend waren, in die deutschsprachige Forschung ein.
In ihrer Einleitung skizzieren die Herausgeber unter Verweis auf fototheoretische Klassiker wie Susan Sontag oder Martha Rosler zunächst den weit in die 1970er Jahre zurückreichenden Diskurs über den Begriff des Dokumentarischen. Unter Rückgriff auf Adam Mazur fassen sie die wesentlichen Entwicklungsphasen der Fotoreportage zusammen. Methodisch verorten sie ihren Zugang innerhalb der Visual History, um in deren Rahmen "jenen Brüchen, Missbräuchen und Strategien" nachzuspüren, "die sich auf den Mythos objektiver Reproduktion der Realität stützen". Dabei gehe es ihnen auch darum, "auf welche Weise die Fotoreportage der Konstruktion von Wirklichkeit in Polen sowie dem Bild von Polen in den Jahren 1918-1989 diente" (17). Untersucht wird dies in vier Bereichen: 1. Beziehung zwischen Bild und "Wirklichkeit"; 2. Fotoreportage in Krisenzeiten; 3. Kulturtransfer (Differenz zwischen Innen- und Außenblick auf Polen); 4. Einfluss der materiellen und technologischen Entwicklung des Mediums Fotografie (vgl. 17f.). Entsprechend dieser Untersuchungsfolie sind die einzelnen Beiträge in sieben chronologisch-thematische Kapitel gegliedert.
Im ersten Kapitel steht unter dem Titel "Pressefotografie in Polen und über Polen in der Zwischenkriegszeit" die Frage des nation building, aber auch der Ausgrenzung von Minderheiten und ihrer Geschichte im Fokus. Wie nach 100-jähriger Teilung Polens ein Selbstbild und Bild des neuen imaginierten "Wir" erst geformt werden musste, diskutiert Anja Burghardt überzeugend anhand von Fotoreportagen in der populären Illustrierten Światowid (Blick auf die Welt). Erweitert wird der Blick auf das neue Polen in zwei Beiträgen zur fotografischen Repräsentation jüdischer Lebenswelten. Nicht nur zeigt Ruth Leiserowitz, welche Fundgrube für die Forschung die noch kaum erforschte Zeitschrift Idishe Bilder (1937-1939) sein könnte. Einem dekonstruktivistischen Ansatz folgt Adam Mazurs Beitrag zu Fotoreportagen über das polnische Judentum von Roman Vishniac, Menachim Kipnis und Benedyct Jerzy Dorys. Darin vertritt er die These, dass "polnische Fotografen [...] in der Zwischenkriegszeit vor 1939 nicht daran interessiert [waren], das Leben polnischer Juden zu dokumentieren" (61).
Die Beiträge der nachfolgenden Kapitel 2 und 3 stellen Fotoreportagen vor, die weitgehend aus einer außerpolnischen Perspektive aufgenommen sind. Eindrücklich rekonstruiert Eugeniusz Cezary Król in seinem Beitrag über die NS-Fotoreportage aus dem besetzten Polen, wie das perfide System der Bildproduktion (Film und Fotografie) im Kontext der NS-Propaganda nicht nur der Desinformation, sondern auch der Rechtfertigung des Holocaust diente. Die der visuellen Dokumentation und kritischen Berichterstattung über die Trümmerlandschaften in Polen nach 1945 gewidmeten Beiträge von Tomasz Stempowski und Maciej Szymanowski zeichnen sich ebenfalls durch engagierte Haltungen gegenüber neuen Mythenbildungen und verfälschender Propaganda in Bezug auf die Besiedlung der nach 1945 gemäß dem Potsdamer Abkommen "wieder gewonnenen Landstriche" aus.
Wie westliche Ausstellungen für die Entwicklung der Fotoreportage in Polen zwischen 1950 und 1969 im Kontext des transkulturellen Bildtransfers im Kalten Krieg (Kapitel 4) stilbildend wirkten, verdeutlicht die Rezeption der fotografischen Präsentation von "The Family of Man" (Edward Steichen) und "Was ist der Mensch" (Karl Pawek) in Warschau. Ihre Impulse veranlassen Kamila Dworniczak-Leśniak in ihrem Beitrag "Zwei Thesen über den Menschen", von der Entstehung eines humanistischen Paradigmas zu sprechen. In zwei weiteren Artikeln setzen sich Danuta Jackiewicz und Margarete Wach mit dem Ost-West-Bildtransfer am Beispiel des Warschauer Wochenmagazins Świat (Welt) auseinander, wobei sie als wesentliche Impulsgeber das Know-how remigrierter polnischer Fotografen und deren professionelle Beziehungen zum Life Magazine sowie auch der Agentur "Magnum Photos" hervorheben.
Die "Tauwetter"-Periode (Kapitel 5) in Polen hat, wie Michał Mrugalski in seinem theorieorientierten Beitrag "Das Foto-Objekt zwischen Müllhalde und Ewigkeit" am Beispiel des "potenzierten" Realismus hervorhebt, der Fotografie sowohl eine neue Kontextoffenheit ermöglicht als auch die Autonomie der Kunst bewahrt. Einen eher pragmatischen Zugang weisen die Artikel von Marta Przybyło-Ibadullajev über die Industriefotografie im Miesięcznik Polski (Polnische Monatszeitschrift) und von Anna Masłowska über Warschau in den Fotografien des Świat 1951-1969 auf. In den lediglich lose auf das Thema des Kapitels bezogenen Beiträgen geht es um die Suche nach neuen ästhetischen Formen, um neue Themen und um die Schaffung eines modernen Polen aus hauptstädtischer Perspektive.
Die Beiträge von Kapitel 6 "Vor der Zeitenwende: Fotografie und Dokumentation des gesellschaftlichen und politischen Wandels" werfen einzelne Schlaglichter auf die Fotoreportage der 1970er und 1980er Jahre. Krzysztof Pijarski widmet sich unter der Fragestellung "Was war die 'soziologische Fotografie'?" einer seit Mitte der 1970er Jahre entstehenden sog. sozialen Fotografie-Bewegung, die ein Selbstporträt der Polen "in Zeiten einer eskalierenden gesellschaftlichen wie politischen Krise erschaffen" (344) wollte. Im Gegensatz zu diesen vom staatssozialistischen Regime geduldeten, fotodokumentarischen Initiativen, die selbst von der Polnischen Akademie wissenschaftlich begleitet wurden, zeichnet sich seit den späten 1960er Jahren eine dokumentarische Fotografie ab, die "Bilder im Ausnahmezustand" (Renata Makarska) hervorbrachte. Dieser Beitrag rekurriert auf jüngere deutschsprachige Forschungsarbeiten zur alternativen Fotografie in der ČSSR der 1970er Jahre und vergleicht die Erkenntnisse mit den Entwicklungen einer politisch engagierten Fotografie nach Ausrufung des Kriegszustands in Polen 1981.
Im letzten Kapitel "Frauen im Kanon der polnischen Fotoreportage" würdigt Schamma Schahadat die polnischen Fotografinnen Zofia Chomętowska, Julia Pirotte und Irena Jarosińska und analysiert in Anlehnung an den polnischen Kunsthistoriker Adam Sobota die diskursive Verankerung ihrer Fotografien im Kanon der polnischen Dokumentarfotografie.
Wer sich im Bereich der polnischen Fotoreportage orientieren oder die aktuellen Diskurse innerhalb der Visual History Polens nachvollziehen möchte, dem sei dieser Sammelband zum Einstieg in die Thematik in jedem Fall empfohlen.
Heidrun Hamersky