Björn Bergold: Wie Stories zu History werden. Zur Authentizität von Zeitgeschichte im Spielfilm (= Histoire; Bd. 161), Bielefeld: transcript 2019, 450 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-4935-2, EUR 49,99
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Chips knabbern, Cola schlürfen, gemeinsam die Füße auf den Tisch legen - selten beginnt geschichtsdidaktische Forschung so entspannt wie in Björn Bergolds Dissertationsprojekt, dessen Verschriftlichung der vorliegende Band darstellt. Die lockere Atmosphäre ist Teil eines sorgfältig arrangierten Forschungssettings, schließlich darf auf unbefangenere und mithin authentischere Antworten hoffen, wer die Befragten die Laborsituation vergessen lässt, in der sie sich eigentlich befinden. Und Authentizität ist das große Thema in Bergolds Untersuchung, kristallisiert in der Forschungsfrage, auf welcher Grundlage die ZuseherInnen einem fiktionalen Spielfilm selbige zuschreiben, wie filmische 'stories' also in den Augen des Publikums zu 'history' werden.
Dabei macht sich der Autor auf in ein Feld voller Widersprüche. Einerseits blickt die Geschichtsdidaktik auf Konzepte wie Wahrheit oder Glaubwürdigkeit mit professionellem Argwohn, andererseits wird in der populären Geschichtskultur kaum eine Forderung lauter erhoben als jene nach Authentizität. Auf der einen Seite ist der Spielfilm vermutlich jenes Medium, das den größten Einfluss auf die Geschichtsbilder Jugendlicher nimmt, gleichzeitig liegen viele der dabei wirksamen Aneignungsmechaniken im Dunkeln - wie überhaupt der Prozess, in dem Geschichtsbewusstsein außerschulisch gebildet und verändert wird, nach wie vor keineswegs als durchdrungen bezeichnet werden kann.
Bergold hat daher keine Mühe, am Beginn des Buches die Relevanz seines Forschungsinteresses klarzumachen. Die Aufrollung der ohnehin recht übersichtlichen Literatur zum Komplex Geschichtsfilm findet ebenfalls im Einleitungskapitel Platz und hat teils bibliographierenden, teils darstellenden Charakter. Ausführlich legt der Autor im anschließenden ersten Hauptkapitel die theoretischen Grundannahmen seiner Studie dar und zimmert daraus ein Arbeitsmodell für die Interpretation der Interviewdaten. Diesem legt er ein performatives Verständnis von Authentizität zugrunde, das in den Aneignungstheoremen der Cultural Studies verankert ist und die Bedeutung des konsumierenden Subjekts "radikal" (95) betont. Authentizität ist demnach weniger objektive Qualität einer Darstellung als vielmehr eine subjektive Zuschreibung, wobei Menschen eine Reihe von erfahrungsweltlichen Bezugspunkten nutzen, um den Wahrheitsgehalt einer Erzählung abzuschätzen. Der Ergründung dieses Prozesses widmet sich eine explorativ angelegte Interviewstudie, die im anschließenden empirischen Teil der Arbeit ausgebreitet wird. Dieser zerfällt in ein kurzes methodisches Kapitel, in dem die Anlage der Studie erläutert wird, und eine 270 Seiten starke Darstellung der Dateninterpretation und ihrer Ergebnisse. Letztere werden am Ende noch in Kernthesen verdichtet, bevor ein knapp gehaltenes Fazit das Buch beschließt. Wenngleich die Gedankengänge an einigen Stellen etwas mäandern, zeichnet sich der Band insgesamt doch durch eine schlüssige Argumentations- und Darstellungsweise aus, wozu auch die sprachliche Gewandtheit des Autors ihr Scherflein beiträgt. In manchen Abschnitten hätte der Text etwas Straffung vertragen, auch hätte das Buch durch das Einziehen einer feiner strukturierten Gliederung noch an Zugänglichkeit gewonnen.
Eine wesentliche Stärke der Arbeit liegt im interdisziplinären Ansatz, den der Autor bei der theoretischen Einkreisung des notorisch unscharfen Authentizitätsbegriffs verfolgt. Statt sich auf die kanonischen Texte der Geschichtsdidaktik zu Authentizität und Triftigkeit [1] zurückzuziehen, leitet er aus narratologischen, medien- und geschichtswissenschaftlichen Theorieelementen eine Systematik ab, in der die "Historizität des Fiktiven" (67) eine Schlüsselrolle spielt: Fiktive (und somit konkret unwahre) Erzählelemente können demnach durchaus als abstrakt wahre Repräsentationen historischer Realität erscheinen, wenn sie glaubhaft im Modus des 'historischen Potentialis' auftreten - etwa, wenn verallgemeinerbare historische Typen oder Verhaltensmuster plausibel in personifizierter Form verkörpert werden. Dies kann freilich im Paradoxon gipfeln, dass "das Ahistorische manchmal authentischer ist als tatsächlich Historisches" (99). Hier trägt der Autor dem keineswegs trivialen Umstand Rechnung, dass die Zuschreibung von Authentizität bei dramatischen historischen Erzählungen stets ein mehrdimensionales Unterfangen ist, in dem Faktizität nur eine von mehreren interessierenden Achsen bildet. Im Wesen der Fiktion liegt es ja, Metarealitäten abzubilden - und ihre Ansprüche auf Wahrheit und Mustergültigkeit können folglich nur auf abstrakteren Ebenen eingelöst und geprüft werden.
Die qualitative Studie selbst setzt auf bewährte, dem Forschungsstil der Grounded Theory zuordenbare Erhebungs- und Auswertungsverfahren wie theoretisches Sampling, offenes Codieren und beständigen Vergleich, die der Autor hinreichend erläutert und begründet. Als Datengrundlage fungieren teiloffene Einzelinterviews mit 18 AbiturientInnen zweier Schulen in Magdeburg und Braunschweig, denen wenige Tage vor dem Gespräch der Spielfilm "Der Turm" (Deutschland 2012) sowie eine zugehörige Dokumentation gezeigt worden waren. Die in den Interviewsequenzen identifizierten Phänomene werden anhand von Zitaten umfassend veranschaulicht, für den Nachvollzug des typischen Interviewverlaufs wäre indes die Beigabe des Leitfadens hilfreich gewesen. Im Ergebnis kann der Autor drei Rezeptionstypen abgrenzen: Ein Teil der Befragten maß den dargestellten Handlungen offenbar konkrete und maximale historische Glaubwürdigkeit bei, andere lasen den Film eher ahistorisch als Ausdruck zeitloser Vorgänge und eine dritte Gruppe verstand den Film überwiegend als authentische Fiktion - konkret unwahr, abstrakt wahr. Besonders gewinnbringend ist die ausführliche Beschreibung der kognitiven Heuristiken, welche die Befragten zur Einschätzung der filmischen Authentizität nutzten. Stets bezogen sich die Jugendlichen auf eine Mehrzahl von verifizierenden Ressourcen (Bergold identifizierte derer gut zwei Dutzend, darunter etwa die Farbe des Spielfilmes, die Beglaubigung durch ZeitzeugInnen oder die Ausstrahlung durch glaubwürdige Instanzen wie ARD und ZDF). Ressourcen mit hoher lebensweltlicher Relevanz wurden als besonders bedeutsam eingeschätzt.
In Summe beweist die Arbeit einmal mehr, dass der Methodenkasten der Grounded Theory seine Stärken bei der Erkundung und Identifikation von Sinnbildungsformen besonders gut ausspielen kann. Gleichzeitig hütet sich der Autor mit Recht davor, die Aussagekraft der Ergebnisse zu überschätzen. Die intensiv beforschte Stichprobe ist zu klein, zu stark verzerrt [2] und zu homogen, als dass die Befunde leichtfertig generalisierbar wären. Der Zusammenhang zwischen Rezeptionstypen und den bevorzugt genutzten Authentifizierungsressourcen bleibt ebenso offen wie der Einfluss, den die Spezifik der Materialien (Spiel- und Dokumentarfilm), des (zeithistorischen) Themas und des Samples auf das Ergebnis hatten. In Ermangelung von Vergleichsgruppen lassen sich zudem keine belastbaren Rückschlüsse auf beispielsweise Entwicklungsverläufe, interkulturelle Unterschiede oder Sozialisationseinflüsse ziehen. So ergeben sich aus der Studie auch keine Implikationen für den Unterricht, was ihren Wert für die Theoriebildung jedoch nicht schmälert. Klug angelegt und durchgeführt, veranschaulicht sie spezifische Prozesse des historischen Realitätsbewusstseins in hoher Auflösung und macht die Wechselwirkungen zwischen Spielfilm und anderen Quellen des jugendlichen Geschichtsverständnisses greifbar. Auf ihrer Grundlage werden weitere Forschungen zu außerschulischen medialen Aneignungsprozessen, die zunehmend wohl auch Computerspiele in den Blick nehmen sollten, guten Halt finden.
Anmerkungen:
[1] So findet etwa Hans-Jürgen Pandels häufig zitierte Aufzählung von Authentizitätssorten keine Erwähnung; vergleiche derselbe: "Authentizität", in: Ulrich Mayer / Hans-Jürgen Pandel / Gerhard Schneider u. a. (Hgg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schwalbach / Ts. 2006, 25-26.
[2] Beispielsweise wurden in die Untersuchung nur Jugendliche aufgenommen, die ein grundsätzliches Interesse an historischen Audiovisionen mitbrachten.
Heinrich Ammerer