Jan Zacharias van Rookhuijzen: Herodotus and the Topography of Xerxes Invasion. Place and Memory in Greece and Anatolia, Berlin: De Gruyter 2019, XVI + 373 S., 7 Kt., 60 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-061020-8, EUR 109,95
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Van Rookhuijzen unternimmt es in seiner 2018 verteidigten Dissertation, gleich zwei große Trends der althistorischen Forschung in einem neuen Ansatz zu verknüpfen - den spatial turn und den cultural turn. Seine Arbeit fragt nach den "Mnemotopen" des Xerxeszugs in Herodots Historien. Dabei unternimmt er es, den Leser auf 300 Seiten gewissermaßen mit auf die Suche nach Spuren des Xerxes-Zugs zu nehmen mit Herodot als Reiseführer. In insgesamt 58 Einzelstudien untersucht der Autor prägnante Plätze und Orte, an denen sich in der Darstellung Herodots Erinnerungen an den Xerxes-Zug manifestieren. Diese "Mnemotope" haben sehr unterschiedlichen Charakter, es handelt sich um Spuren von persischen Infrastrukturprojekten (wie z.B. den Athos-Kanal), um Heiligtümer, die entweder von den Persern zerstört wurden (wie z.B. die Akropolis), Orte, an denen Götter interveniert haben sollen (wie Salamis), oder Tempel, an denen die Perser griechische Kulte praktizierten (wie in Ilion). Daneben spielen als "Mnemotope" Schlachtfelder, Grabmäler, Zufluchtsstätten und Passwege eine Rolle, die eine Umgehung von Stellungen ermöglichten (mit den Thermopylen als bekanntestem Beispiel), und schließlich identifiziert der Autor Orte, an denen Xerxes seinen Thron errichtet haben soll und die als solche eine Prominenz besaßen. Die 58 Einzelstudien sind überaus sorgfältig gearbeitet, sie führen stets ausgehend von der Darstellung Herodots über eine Analyse der konkreten topografischen Gegebenheiten zu einer Analyse ihres Wertes als Erinnerungsorte und zu dem zugrundeliegenden Deutungskonzept. Dass die Ergebnisse dabei zum Teil sehr unterschiedlich ausfallen in ihrer Analyse ist natürlich auch der Heterogenität der Orte geschuldet - auch in den Details inhaltlich ergiebig scheinen dem Rezensenten vor allem die Analysen zum delphischen Heiligtum mit ihrer klaren Absage an die These eines Medismos Delphis und einer Deutung der Tholos als Monument für einen der eingreifenden Heroen. Betrachtet man das vom Autor selbst vorgelegte Fazit der Studie, dann scheint ihm der Nachweis der Tragfähigkeit des zugrunde gelegten Paradigmas der Mnemotope fast wichtiger als eine inhaltliche Auswertung. Daran soll die Arbeit dann auch gemessen werden, aber dennoch erscheinen dem Rezensenten auch einige übergreifende Ergebnisse der Einzelstudien wichtig. So arbeitet van Rookhuijzen, wohl zu Recht, deutlich heraus, dass das persische Imperium kaum den religiös freundlich-multikulturell-toleranten Charakter besaß, den manche moderne Interpreten ihm so gerne zuschreiben. Die von ihm im Detail aufgezeigten Tempelzerstörungen im Feindgebiet arbeitet er - auch unter Verweis auf Xerxes' Inschriften in Persepolis - zutreffend als Teil einer persischen Strategie heraus und hält sie - anders als mancher Forscher vor ihm - weitgehend für historisch. Zutreffend ist sicher auch eine weitere Beobachtung, nämlich die, dass der herodoteische Bericht die Topografie des Xerxeszugs in Kleinasien selbst überwiegend innerhalb eines Deutungskonzepts präsentiert, das dem Leser die Hybris der Perser und ihr voraussichtliches Ende an zahlreichen Beispielen nachweist, indem er Xerxes und sein Heer an Orte führt, die mythologisch oder durch intertextuelle Bezüge klar auf die Niederlage vorausverweisen. Davon grenzt der Autor zutreffend den Zug nach der Thermopylenschlacht ab - erst hier begann die eigentliche Invasion, und das ist sicher auch plausibel nachgewiesen am veränderten Verhalten der Perser. In vielen Einzelstudien finden sich überaus bemerkenswerte und von der Forschung sicher weiter intensiv zu diskutierende Interpretationsansätze zum herodoteischen Text, die auf der Grundlage einer überaus genauen philologischen Arbeit entstanden sind.
Der Autor selbst versteht seine Arbeit vor allem als eine methodische Innovation und insofern ist auch danach zu fragen, ob die "Mnemotope" denn nun einen neuen fruchtbaren Ansatz für die Forschung bringen. Die Analyse der Funktionsweisen historischer Erinnerung hat sich in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten in der Geschichtsforschung ja durchaus um einen differenzierenden Ansatz bemüht - ob es nun das "kulturelle Gedächtnis" Assmanns oder die "lieux de mémoire" Noras oder auch die Frage nach der intentionalen Geschichte bei Gehrke u.a. waren. Der Ansatz van Rookhuijsens versucht nun, diese Fragestellungen zu verknüpfen mit dem spatial turn - das ist ein ambitioniertes Unterfangen, zumal er darüber hinaus das herodoteische Geschichtswerk zur Grundlage nimmt. Die Grundidee ist, nach der topografischen Manifestation von Erinnerungstraditionen zu fragen bzw., nach der Bedeutung von Topoi für die Formation von historischer Erinnerung. Es ist, wie viele Einzelbeobachtungen in dem vorliegenden Werk zeigen, durchaus ergiebig, diesen Konnex stärker in den Blick zu nehmen als das viele frühere Studien zur Funktion von Erinnerung getan haben. Im Detail bietet der Ansatz bemerkenswerte Beobachtungen. Es gibt aber auch eine kaum zu übersehende Schwäche des Ansatzes, so wie er in dem vorliegenden Werk praktiziert wird: Die Grundlage der Analyse ist ein literarisches Werk - wir sehen die Topografie und die sich dort manifestierende Erinnerung im Spiegel des Werkes Herodots. Für dessen Analyse sind aber literaturgeschichtliche und intertextuelle Bezüge mindestens genauso wichtig wie die Topografie als solche - und diese Dimension bleibt oft unklar bzw. sie wird methodisch auf dünnem Eis in die Interpretation einbezogen - wenn etwa plötzlich abweichende Erzählungen einbezogen werden, manchmal aber auch nicht, wenn über Erinnerungsprozesse zwischen Ereignis und Herodot gemutmaßt wird, ohne diese aber methodisch reflektiert zu untersuchen. Spätestens bei den Untersuchungen zu Delphi, Athen und Plataiai wird sehr deutlich: Die Beschränkung der Untersuchung auf das herodoteische Werk ist Chance wie Risiko zugleich: Will man der Topografie gerecht werden und will man ihre Bedeutung für die Erinnerung zutreffend einordnen, dann müssen auch außerherodoteische Quellen stärker Berücksichtigung finden, will man die herodoteische Sicht des Xerxeszugs präzise untersuchen, dann müssen auch intertextuelle und literaturwissenschaftliche Fragestellungen methodisch stärker berücksichtigt werden. Dieser Spagat wird, je näher man den Kernereignissen des Xerxeszugs in Griechenland selbst kommt, immer schwieriger. Dieses Dilemma zeigt auch, dass der Ansatz der "Mnemotope" sicherlich interessant und vielversprechend ist, aber analytisch noch weiter geschärft werden muss.
Auffällig ist in der gesamten Studie, dass sie fast ausschließlich auf einer Auswertung englisch- und italienischsprachiger Forschungsliteratur fußt, während deutsch- und französischsprachige Titel oft nur Pro-forma-Zitate erhalten und inhaltlich kaum genutzt werden. Das führt an nicht wenigen Stellen zu einer deutlichen Schieflage der Diskussion. Die philologische Akuratesse, mit der Herodot bearbeitet wird, hätte sich auch auf den nicht englischsprachigen Teil der Forschungsbeiträge erstrecken sollen.
Alles in allem liegt mit der Arbeit van Rookhuijzens eine interessante und in vielen Details bemerkenswerte Studie zur Darstellung des Xerxeszugs bei Herodot vor, die in manchen Aspekten die Diskussion beleben wird, deren ambitionierter methodischer Ansatz aber sicherlich noch einer Schärfung bedarf.
Michael Jung