Rezension über:

Volker Barth: Wa(h)re Fakten. Wissensproduktion globaler Nachrichtenagenturen 1835-1939 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 233), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 363 S., ISBN 978-3-525-37085-8, EUR 65,00
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Rezension von:
Robert Radu
Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Robert Radu: Rezension von: Volker Barth: Wa(h)re Fakten. Wissensproduktion globaler Nachrichtenagenturen 1835-1939, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/07/33826.html


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Volker Barth: Wa(h)re Fakten

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Die Nachricht als mediales Produkt, ihr Wahrheitsgehalt und Objektivitätsanspruch, sind im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verstärkt zum Gegenstand öffentlicher Debatten und politischer Auseinandersetzungen geworden. Gerade in Zeiten, in denen das Schlagwort "Fake News" zum politischen Kampfbegriff avanciert ist und Nachrichtenagenturen als jene klassischen Produzenten von Nachrichten zunehmend von alternativen Informationsanbietern in den sozialen Medien herausgefordert werden, lohnt es, sich nicht nur aus historischem Interesse, sondern ebenso aus gesellschaftlicher Aktualität mit der zentralen Rolle zu befassen, die Nachrichtenagenturen in der globalen Nachrichtenproduktion der "massenmedialen Sattelzeit" zugefallen war.

Mit Volker Barths Studie "Wa(h)re Fakten" liegt nun eine Geschichte der Nachrichtenagenturen vor, die hierzu eine willkommene Gelegenheit bietet. Sie beruht auf der überarbeiteten und aktualisierten Fassung seiner Habilitationsschrift, die der Autor im Frühjahr 2017 an der Universität zu Köln eingereicht hat. Die Studie ist, sowohl was ihren Umfang, innovativen Zugriff als auch ihre breite Quellengrundlage angeht, die erste dieser Art (einzig Michael Palmers 2019 erschienene Studie "International News Agencies: A History" ließe sich in diesem Zusammenhang erwähnen, konnte jedoch anscheinend vom Autor nicht mehr berücksichtigt werden). Barth nimmt darin die ersten vier, als "modern" zu bezeichnenden Nachrichtenagenturen der Geschichte in den Blick, die den globalen Nachrichtenmarkt bis weit ins 20. Jahrhundert beherrschten: die französische Agence Havas (1835), die US-amerikanische Associated Press (1846/48), das preußische Wolff's Telegraphische Bureau (1849) und die britische Agentur Reuters (1851). Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Gründung der ersten dieser vier Agenturen, der französischen Agence Havas, bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs.

Barth hat dabei weit mehr als nur eine Unternehmensgeschichte verfasst. Die Studie erhebt den Anspruch, Global-, Wissens- und Mediengeschichte in einer Historiographie der Nachrichtenagenturen zu bündeln, was ihr - dies sei bereits vorweggeschickt - auf beeindruckende und intellektuell anregende Weise gelingt. Im Gegensatz zu älteren Arbeiten zum selben Thema geht es Barth nicht darum, die Geschichte einzelner Agenturen synoptisch abzuhandeln. Stattdessen bettet Barth die vier großen Agenturen in die internationale Medienlandschaft ihrer Zeit ein. Sein Interesse gilt nicht nur der Verflechtung der Agenturen untereinander und ihrer Einbindung in ein weltweites Vertriebssystem, sondern ebenso der konkreten Herstellung der Ware "Nachricht" und den Verfahren, Produktionsroutinen sowie dem Redaktionsalltag, die diese Ware erst hervorbrachten (25).

Entlang einer chronologischen Erzählung rückt Barth in neun Kapiteln zentrale thematische Aspekte in den Vordergrund: Die Bedeutung der Telegrafie als Nachrichtentechnik für die Genese und globale Ausrichtung der Agenturen; das Austauschsystem zwischen den Agenturen; die Kommodifizierung der Nachricht und, eng damit verknüpft, der Objektivitätsanspruch als Unternehmensstrategie; die Grenzen des Objektivitätsideals im Ersten Weltkrieg; sowie die Diversifizierung der Nachrichtenformate in seinem Gefolge.

Barth begreift Nachrichtenagenturen als die "ersten wirklich globalen Medienunternehmen" und "Schlüsselspieler in der Geschichte der Globalisierung" (23). Ihre historische Rolle muss insbesondere darin gesehen werden, dass sie die Wahrnehmung der Welt durch das von ihnen produzierte Nachrichtenwissen strukturierten und entscheidend mitformten. Was Leser dabei freilich als Welt wahrnehmen, waren nicht mehr als jene Weltregionen, in denen die Nachrichtenagenturen operierten, also primär die westliche Welt. Bis weit ins 20. Jahrhundert blieben große Teile Afrikas, Asiens und Südamerikas, wie Barth aufzeigt, nachrichtentechnisches Niemandsland. Am Beispiel der Nachrichtenagenturen werde Globalisierung damit, so eine These des Buches, als Neustrukturierung von Räumen erkennbar, die sich gerade nicht durch eine "durchgängige Vereinheitlichung", sondern langfristig wirksame "Fragmentierung und Neuanordnung" auszeichnete (284).

Nachrichtenagenturen sind in der Forschung mithin als imperiale Werkzeuge der Großmächte begriffen worden. Barth gelangt in seiner Studie zu einem differenzierteren Bild. Am Beispiel der europäischen Kolonialkriege kann er aufzeigen, wie Nachrichtenagenturen für einen Zugang zu exklusiven Nachrichten von der Front auf Staatsnähe und Regimetreue bedacht waren, ohne dass deren Rolle dabei doch auf jene eines verlängerten Arms der Großmächte im Kampf globaler Kommunikationskontrolle reduziert werden könnte. Vielmehr sei von einem symbiotischen Verhältnis von unternehmerischen Strategien und staatlicher Machtpolitik auszugehen, wobei stets eine "wirtschaftliche Ausbeutung, nicht imperiale Inbesitznahme" im Vordergrund gestanden habe (286).

Nachrichtenagenturen brachten, wie Barth überzeugend herausarbeiten kann, eine eigene Form des Wissens hervor: Sie überführten Informationen mittels standarisierter Methoden und serieller Produktion in ein kommerzielles Handelsgut, das sie an ihre Kunden (Zeitungen, Zeitschriften) verkauften. Ihr Anspruch und Markenzeichen war es, empirisch verlässlich und weltanschaulich neutral zu sein, und somit nichts als pure, objektive Fakten zu liefern, was der standardisierte Telegrammstil jener Zeit noch einmal zu beglaubigen schien. Dieser, heute mithin naiv anmutende Anspruch passte freilich in die epistemologischen Vorstellungen jener Zeit und ihrer "Ideologie der Objektivität" (Jürgen Osterhammel). Agenturen verfolgten diesen Anspruch allerdings nicht primär aus einem journalistischen Ethos heraus, sondern, so eine These, aus einem rational-unternehmerischen Kalkül, konnte ein und dieselbe Nachricht doch so an eine politisch und weltanschaulich höchst unterschiedlich ausgerichtete Klientel verkauft und im globalen Austauschsystem der Agenturen ohne inhaltliche Änderungen verwendet werden.

Beglaubigungsstrategien, wie Agenturen sie von Beginn an entwickelten und stets neuen Nachrichtenformen anpassten, sollten die Objektivität der Nachrichten verbürgen. Barth zeichnet dies detailliert am Aufkommen des Interviews als neuem Nachrichtengenre nach, für das Nachrichtenagenturen die Kennzeichnung von Zitaten durch Anführungszeichen als Objektivitätskriterium definierten (114). Quellenangaben - eine andere Strategie - verkürzten die redaktionelle Bearbeitungszeit, denn nun reichte es, die Glaubwürdigkeit der Quelle zu überprüfen, statt der Information selbst.

Barth hat eine intellektuell anregende, in ihrem Zugriff innovative und auf reicher archivalischer Quellengrundlage fußende Studie vorgelegt und damit einen wichtigen Beitrag zu einer integrativen Geschichte der Medien geleistet. Dass die "objektive Nachricht" aus einem unternehmerischen Kalkül geboren worden sei, das auf eine serielle Produktion von Nachrichten nach standardisierten Verfahren abzielte, vernachlässigt gleichwohl ältere Traditionslinien, wie sie etwa für den deutschen Journalismus im Ideal der Unparteilichkeit zum Ausdruck kommen und vor den Vormärz bis weit ins 18. Jahrhundert zurückreichen.

Robert Radu