Franziska Rehlinghaus / Ulf Teichmann (Hgg.): Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 108), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2019, 256 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-8012-4267-1, EUR 32,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Nikolas Lelle: Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe, Berlin: Verbrecher Verlag 2022
Uwe Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, Konstanz: UVK 2017
Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft 1840-1940, Göttingen: Wallstein 2020
Der vorliegende Band verbindet mit der New Labour History und der Historischen Zukunftsforschung zwei aktuell wichtige geschichtswissenschaftliche Subdisziplinen. Er ging aus einer Tagung im Jahr 2016 hervor, die von der Friedrich-Ebert- und der Hans-Böckler-Stiftung ausgerichtet wurde. Das Ziel ist es, Perspektiven auf eine neue Geschichte "vergangener Zukünfte" der Arbeit im 20. Jahrhundert zu eröffnen. Dabei geht es den Herausgeberinnen und Herausgebern explizit nicht darum, vergangene Zukunftsentwürfe ideengeschichtlich zu historisieren - dies hat die Forschung zur Genüge getan. Vielmehr sollen diejenigen sozialen Praktiken historischer Akteurinnen und Akteure in den Blick genommen werden, die an der Zukunft der Arbeit orientiert sind.
In der instruktiven Einleitung bringen Franziska Rehlinghaus und Ulf Teichmann die beiden Forschungsfelder Arbeit und Zukunft miteinander ins Gespräch. Eine praxistheoretisch fundierte (Zeit-)Geschichte der Arbeit wird mit dem analytischen Werkzeugkasten der historischen und sozialwissenschaftlichen Zukunftsforschung ausgestattet. Es geht darum, "das Zukunftswissen historischer Akteure und ihre darauf abgestimmten Handlungen zu typologisieren" (16). Im Anschluss an Rüdiger Graf und Benjamin Herzog werden Zukunftspraktiken der Arbeit weniger als Resultat von Zukunftswissen, sondern als Handlungen aufgefasst, die Zukunft erst erzeugen und wiederum auch Zukunftsentwürfe modifizieren [1]. Mit diesem Zuschnitt gelte es, etablierte historische Zäsuren und Narrative über kollektive Zukunftshorizonte zu hinterfragen, namentlich die Meistererzählungen von der Rationalisierung der Zeit sowie von der Individualisierung von Zeitvorstellungen im 20. Jahrhundert, schließlich vom Bedeutungsverlust von Zukunftsvisionen und Machbarkeitsvorstellungen "nach dem Boom". Teichmann und Rehlinghaus machen dabei Lücken kenntlich. Diese bestünden in einem "räumlichen und zeitlichen Bias" (9) der vorliegenden Beiträge, die vor allem auf die europäisch geprägte Erwerbsarbeit ausgerichtet sind. Dabei erwähnen sie feministische und globalgeschichtliche Erweiterungen des Arbeitsbegriffs sowie das Verhältnis von Migration und Arbeit. Aus Sicht einer neuen Gewerkschaftsgeschichte plädieren Teichmann und Rehlinghaus schließlich für eine Analyse der "verschiedenen Formen der demokratischen Organisation von Arbeit in Betrieben und Unternehmen als Zukunftspraktiken" (28).
Die neun Beiträge sind entlang von vier Modi zukünftiger Arbeit strukturiert: "Zukunft der Arbeit", "Arbeit der Zukunft", "Zukunft durch Arbeit" und schließlich "Arbeit mit und an der Zukunft". Dabei untersuchen die Autorinnen und Autoren unterschiedliche Branchen und Akteure, darunter klassische industrielle Branchen. So beschäftigt sich Marco Swiniartzki in seinem Beitrag mit den "Rationalisierungszukünften" der 1920er Jahre und Karsten Uhl mit der "Automatisierung und Menschenführung" in der NS-Zeit. Swiniartzki macht deutlich, dass die Frage von betrieblicher Macht und Herrschaft entscheidend war. Die jeweilige soziale Position der Akteurinnen und Akteure bestimmte das Zukunftshandeln zwischen Erhaltung und Veränderung. Der Autor hält fest, dass eher von pluralisierten historischen Zukunftsvisionen und -praktiken ausgegangen werden muss. Karsten Uhl zeigt, wie nationalsozialistische Zukunftsversprechen der Arbeit an bestehende Debatten und Automatisierung und Menschenführung anknüpfen konnten und in den Industriebetrieben zu einer sozial und rassisch segregierten Leistungsgemeinschaft transformiert werden sollten. Während die NS-Zeitvorstellungen eher auf Unrast, Tradition und Zukunft ruhten, waren die Zukunftsvisionen in der DDR linear an einer sozialistischen Zukunft orientiert. Annette Schuhmann gibt anhand dreier wirtschaftspolitischer Reformprogramme einen Überblick darüber, wie der "real existierende Sozialismus" sich als Übergangsgesellschaft begriff und immer wieder neue Zukunftserwartungen produzierte. Dies geschah, weil die Zukunftsvisionen auf individueller Erfahrungsebene mit der Gegenwart kollidierten und immer wieder neu ausgerichtet werden mussten. In der bundesdeutschen betrieblichen Weiterbildung der 1970er Jahre ließe sich beobachten, so arbeitet Franziska Rehlinghaus heraus, wie mit Kreativitätskursen neue arbeitsspezifische Zukunftsregime etabliert wurden, mit denen sich die Arbeiterschaft konfrontiert sah.
Dass eine Beschäftigung mit vergangenen Zukünften der Arbeit auch tagesaktuelle Entwicklungen in einem anderen Licht erscheinen lassen, zeigt der Aufsatz von Mirko Winkelmann über "Telearbeit" seit den 1980er Jahren. Statt eines revolutionären Umbruchs der Arbeitswelt betont Winkelmann hier eher die längeren Kontinuitäten über die Ambivalenzen des "Home Office". Weiter entfernt von industriellen Branchen bewegen sich die Beiträge von Martin Rempe und Klaus Nathaus, die sich der musikalischen Arbeit widmen. Während Rempe darlegt, wie umstritten die Zukünfte von Orchestermusik in der frühen Bundesrepublik waren und welche Rolle Bedrohungsszenarien spielten, zeigt Nathaus, wie unsicher Zukunftsbezüge für Musiker als "Selbstunternehmer wider Willen" waren. Sindy Duongs Beitrag stellt heraus, wie vermeintlich sichere Zukunftshorizonte durch die steigende Arbeitslosigkeit von Lehrerinnen und Lehrern in den 1980er Jahren erschüttert wurden und wieder neu ausgerichtet werden mussten. Das Spannungsfeld von Utopie und Pragmatismus fokussiert Saskia Geisler am Beispiel finnischer Bauarbeiter in der Sowjetunion in den 1980er Jahren. Durch die unterschiedlichen politischen Systeme in denen sich diese bewegten, waren die Zukunftsbezüge in doppelter Hinsicht aufgeladen.
Mit dem gewählten Zugriff auf soziale (Zukunfts-)Praktiken und Aneignungsweisen gelingt es dem Band insgesamt, etablierte zeithistorische Meistererzählungen herauszufordern und theoretisch fundiert Denkanstöße für weitere Forschungen zu liefern. Die Beiträge unterfüttern die These von pluralen vergangenen Zukünften der Arbeit und geben darüber hinaus erste Hinweise auf weitere Aspekte: statt festgefügter Pfade sei Kontingenz ebenso zu beachten wie Wechselverhältnisse von individuellen und kollektiven Zukunftsentwürfen und -praktiken. Auch wenn tatsächlich der Glaube an die Gestaltbarkeit von Zukunft zu erodieren schien, wenn große Entwürfe an Bedeutung verlören, böten sich für die Arbeitenden auf Ebene der sozialen Praxis neue Gestaltungsmöglichkeiten. Das Herausgeberduo plädiert dafür, diese zu analysieren. Dabei bleibt zu kritisieren, dass Beiträge fehlen, die sich Zukunftspraktiken außerhalb gewerkschaftlich und betrieblich organisierter Arbeit widmen. Der Blick über den Tellerrand des männlich dominierten Normalarbeitsverhältnisses hätte den Band abgerundet. Alles in allem erfüllt er die selbstgesteckten Ansprüche und liefert einen Beitrag für eine neue Geschichte der Arbeit, die der charakteristischen Zukunftsorientierung der kapitalistischen Wirtschafts- und Arbeitsweise gerecht wird.
Anmerkung:
[1] Vgl. Rüdiger Graf/ Benjamin Herzog: Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), 497-515.
Torben Möbius