Idith Zertal: Refusal. Conscientious Objection in Israel, Tel Aviv: Hakibbutz Hameuchad 2018, 382 S., ISBN 978-965-02-0868-4
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Welche Rolle spielt Kriegsdienstverweigerung in einer von Krieg und Besatzung geprägten politischen Ordnung? Wie gehen das Militär, der Staat und die Gesellschaft um mit dem Widerstand aus den eigenen Reihen gegen Israels Kriegspolitik? Die israelische Historikerin Idith Zertal befasst sich in ihrem neuen Buch mit diesem in der Forschung wenig beachteten, aber heiklen Aspekt der politischen Kultur Israels. Ihr Buch thematisiert den "Gewissenswiderstand, der sich vor allem auf die israelische Besatzung" in den palästinensischen Gebieten bezieht. "Es sucht, dessen Erscheinungsformen auszuloten" und fragt auch nach dem "intellektuellen, politischen und kulturellen Hintergrund und dessen Trägern; was motiviert sie, und wie sieht der öffentliche Diskurs" über ihre Verweigerungshaltung aus (16)? Tatsächlich geht es der Autorin zumeist um politisch motivierte Kriegsdienstverweigerer aus dem linkszionistischen Spektrum; Kriegsdienstverweigerung der Rechtszionisten (im Falle etwa von Siedlungsräumungen) oder der per Gesetz vom Militärdienst befreiten jüdischen Orthodoxen klammert sie aus. Anhand einer Reihe von Fällen - von den 1950er Jahren bis zum heutigen Tage - erzählt Zertal die bewegende Geschichte der Kriegsdienstverweigerung, ohne dabei davor zurückzuschrecken, sich kritisch gegen Israels ausweglose Kriegspolitik zu positionieren.
Der erste Teil behandelt unter der Überschrift "Dimensionen des Bösen" zunächst "Die erschreckende Leere des Bösen". Dort diskutiert die Autorin Hannah Arendts Begriff "Die Banalität des Bösen", um dann die historische Bedeutung des modernen, mithin "menschlichen" Bösen in Gewaltstrukturen festzumachen. Im Kapitel "Gehorchen und Widerstand" schildert sie, inwieweit Arendts politisches Denken israelische Kämpfer bzw. Kampfsituationen beeinflusst hat. Hier zeigen sich die diversen Beweggründe für Gehorsam und Ungehorsam unter israelischen Soldaten in engem Zusammenhang mit Israels staatlicher Shoah-Erinnerung.
Das Kapitel "Schwarze Flagge" bringt einen berühmten Fall vom 29. Oktober 1956 als Paradebeispiel für die Rolle individuellen Denkens gegen das banale Böse. Die Affäre Kfar Kassem ereignete am Vorabend des Sinai-Suez-Kriegs, als Israel über die arabischen Dörfer in Galiläa eine vorgezogene Ausgangsperre verhängte, und zwar ohne die arabischen Gemeinden rechtzeitig über den neuen Zeitpunkt zu informieren. Zertals Interesse gilt hier der Reaktion der israelischen Grenzsoldaten: Während sich die Soldaten zumeist weigerten, dem Schießbefehl nachzukommen, wohl wissend um den Wissenstand der arabischen Feldarbeiter, waren die Folgen für das Dorf Kassem fatal. Dort wurde der Schießbefehl ausgeführt. Zwar prägte das Militärgericht im Zuge des Verfahrens gegen die Verantwortlichen für die 49 Toten den für die Kriegsdienstverweigerer wichtigen Begriff "Schwarze Flagge" - die Erlaubnis für Befehlsempfänger bei scheinbar oder offensichtlich verbotenen Befehlen diese nicht ausführen zu müssen bzw. zu dürfen -, doch für Zertal ist hier vom Belang: das Militär verdrängte und verachtete sogar diesen Moralcode.
Im zweiten Teil des Buchs - "Chroniken vom Widerstand" - wird in Kapitel 4 - "Ruhe, wir besetzten" - eine Reihe von Fällen, in denen vor allem junge Israelis sich dem Kriegsdienst widersetzten, geschildert. Kriegsdienstverweigerer nannten gezielt die Besatzung nach dem Eroberungskrieg von 1967 als Grund für ihre Entscheidung. Der erste war Giyora Neumann, ihm folgten Reservisten und Gymnasiasten, die öffentlich Protest erhoben. Der Fall von Gadi Elgazi von Ende der 1970er schließt das Kapitel ab: Der 18jährige weigerte sich wiederholt, seinen Militärdienst in den besetzten Gebieten zu absolvieren; sein Fall landete schließlich beim Obersten Gericht.
Der Fall Elgazi zeigt, welche Funktion die Justiz erfüllt: Trotz Verständnis und zuweilen Sympathien des Obersten Gerichts für die meist aus den gebildeten Schichten stammenden Dissidenten, zementierten dessen Urteile das Besatzungsregime Zug um Zug. Das Oberste Gericht ist der Staatsideologie mit ihren Sicherheitsmythen verpflichtet; es trug auch dazu bei, dass die angeblichen Notwendigkeiten des Kriegs verinnerlicht und die Besatzung schließlich legitimiert wurde. Besatzungs- und Kriegsdienstverweigerung sind - wie Zertal ausführlich veranschaulicht - unter diesen Bedingungen zum Scheitern verurteilt.
Kapitel 5 - "Die Liebe für die Heimat" - behandelt die 1980er Jahre. Das Jahrzehnt des Libanon-Kriegs und der ersten Intifada gebar eine neue Generation von Kriegsdienstverweigerern. Eine Protestbewegung entstand mit Kriegsausbruch 1982: "Yesh Gvul" wollte Staat und Militär im wahrsten Sinne des Worts Grenzen setzen. Besatzungskritiker wie der Philosoph Yeshayahu Leibowitz positionierten sich; eine zivile Rebellion sei vonnöten: "Der Libanon-Krieg zeigte Israels Missbrauch der Institutionen des Kriegs. Israels Militär ist längst keine Verteidigungsarmee mehr. Sollten sich tausend Soldaten dem Kriegsdienst verweigern, wird das Militär kaum eine Chance haben", seine Kriegspolitik weiterzuführen (226). Doch außerparlamentarische linke Gruppen wie "Peace Now" sowie die linkszionistische Partei Merez lehnten aus Überzeugung jede Form von Kriegsdienstverweigerung ab; von der linkszionistischen Arbeitspartei ganz zu schweigen. Das lag nicht zuletzt daran, dass der Linkszionismus den Krieg als Mittel der Politik verstand.
Zu Beginn des neuen Millenniums brachte "der neue Krieg" (Uri Ben Eliezer) die abermalige Besatzung der Palästinensergebiete. Soldaten und Reservisten verweigerten erneut den Militärdienst. Das 6. Kapitel - "Die schwere Last des Gewissens" - skizziert die im Zuge der Zweiten Intifada 2002 gegründete Gruppe "Mut zur Verweigerung"; 2003 wurden auch Stimmen aus der Eliteeinheit Sayeret Matkal ebenso wie von Kampfpiloten laut. Auch hier marginalisierte das Militär die Dissidenten, und zwar mithilfe einer "zivil-militarisierten Gesellschaft" (Baruch Kimmerling). Das abschließende 7. Kapitel - "Was hat die Frau zu melden?" - richtet mit der Anspielung auf Dalia Rabikowitz' Gedicht von 1989 den Fokus auf die Militärdienstverweigerung unter Frauen. Besondere Beachtung findet hier die junge Generation von Kriegsdienstverweigerinnen, die aus tiefster Überzeugung wegen der verheerenden Erfahrung der Zweiten Intifada (2000-2005) und der Gazakriege (2006, 2009, 2012, 2014) einen hohen Preis für ihren Mut zu zahlen hatte.
Welche Wirkungsgeschichte hat die Kriegsdienstverweigerung? "Refusal" zeigt das immanente Spannungsfeld zwischen der schwachen Gesellschaft und dem starken Staat. Die Wehrdienstverweigerer suchen seit Jahrzehnten, Israels Kriegspolitik in Frage zu stellen, ja zum Politikum zu machen. Doch die auf Krieg, Besatzung und Abschreckung basierte Sicherheitspolitik gehört nach wie vor zu den Grundpfeilern des zionistischen Israel. Damit einher geht die Marginalisierung der Kriegsdienstverweigerer, die gleichsam die Kehrseite von Israels historisch gewachsener Zivilmilitarisierung bildet. Denn im Israel des neuen Millenniums ist der hundertjährige Konflikt mit den Palästinensern und mithin das Besatzungsregime längst etabliert - und damit auch der Mythos der Kriegsnotwendigkeit. Dieser Aspekt geht in Zertals höchst engagiertem, gut geschriebenem und erhellendem Buch über erstaunliche Phänomene des Widerstands freilich unter.
Tamar Amar-Dahl