Chajka Klinger: I Am Writing These Words to You. The Original Diaries, Będzin 1943. Ed. by Avihu Ronen, Jerusalem: Yad Vashem 2017, 204 S., ISBN 978-965-308-548-0
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
David Silberklang: Gates of Tears. The Holocaust in the Lublin District, Jerusalem: Yad Vashem 2013
Ivan Lefkovits (Hg.): »Mit meiner Vergangenheit lebe ich«. Memoiren von Holocaust-Überlebenden, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2016
Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944, Göttingen: Wallstein 2011
Die Tagebücher von Chajka Klinger sind eine wichtige und bewegende Quelle: Im Versteck im Jahr 1943, nachdem sie alle ihre Liebsten verloren hat, beschreibt sie in der Unmittelbarkeit des gerade Erlebten und noch ohne zu wissen, ob sie selbst überleben wird, das Wirken des jüdischen Widerstands im deutsch besetzten Polen, vor allem in Będzin und auch in Warschau. Sie schreibt in ihrem ersten langen Eintrag am 26. August 1943, warum sie weiterleben muss: "My dear ones, deported, executed comrades; I have a debt with you - to tell of your lives and deaths. I do not want you to depart forgotten. I want you to come back to life on paper, in people's memories, in the hearts and souls of our companions who are they, far away. I want your memory to be celebrated, your names to be respected and loved" (29).
Und obwohl sie unsicher ist, ob sie dies kann, ob die menschliche Sprache überhaupt in der Lage ist, dies darzustellen, schreibt sie eindrucksvoll über die jüdischen Frauen und Männer, die den Widerstand geprägt haben und in diesem Sommer und Herbst 1943 schon nicht mehr am Leben sind. Unter diesen Ermordeten ist auch ihr Ehemann Dawid Kozłowski, den sie noch im Frühjahr 1943 geheiratet hatte. Er war in eine Falle geraten, als er Kontakt zu Partisanen aufnehmen wollte.
Klinger, 1917 in Będzin geboren, schreibt über Razzien und Deportationen, über das Leben im engen und stickigen Bunker, über Konflikte innerhalb des Untergrunds und über Frauen im jüdischen Widerstand. Scharf kritisiert sie das Verhalten der sogenannten "Judenräte", aber auch die Führung des Jischuw in Palästina für ihre, wie sie schreibt, passive Haltung gegenüber den in Europa Eingeschlossenen. Wir erfahren in diesen Tagebüchern von Ängsten und Hoffnungen, von Kampfeslust und Verzweiflung, von Leidenschaft und Wut einer jungen Frau, die für sich den Kampf gegen die Nationalsozialisten als einzig gangbaren Weg gewählt hat.
Immer wieder war auch sie dem Tod nahe. So beschreibt sie, wie sie nach der Entdeckung ihres Bunkers auf dem Boden lag, von einem Deutschen immer wieder mit Fußtritten malträtiert wurde und sich sicher war, diesen Moment nicht zu überleben. Doch sie überstand diesen und andere Momente unmittelbarer Todesgefahr. Zwischen Dezember 1943 und Anfang März 1944 gelangte sie über die Slowakei, Ungarn und die Türkei nach Palästina. Ihre Tagebücher hatte sie im Gepäck.
Neun Notizhefte mit 222 auf Polnisch beschriebenen Seiten sind überliefert und werden im Moreshet-Archiv in Givat Haviva aufbewahrt. Klinger hatte nach ihrer Ankunft in Palästina zunächst selbst begonnen, die Tagebücher teilweise umzuschreiben und für eine Edition vorzubereiten, was jedoch nicht gelang. Sie heiratete 1944 und bekam drei Söhne. Doch konnte die Widerstandskämpferin 1958, nach mehreren persönlichen Krisen, nicht mehr kämpfen. Sie nahm sich einen Tag vor dem 15. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Getto das Leben. Ein Jahr später wurden ihre Tagebücher in einer vor allem aufgrund der darin enthaltenen Kritik an der jüdischen Führung in Palästina stark gekürzten und bearbeiteten Fassung publiziert.
Die hier erstmals auf Englisch vorliegende, vollständige Ausgabe hat mit Avihu Ronen einer von Klingers Söhnen herausgegeben. Ronen, der neun Jahre alt war, als er seine Mutter verlor, hat bereits 2011 eine Biografie seiner Mutter verfasst.[1] Es wirkt etwas befremdlich, wenn er in der Einleitung über sich selbst in der dritten Person spricht. Doch schadet die offensichtliche Nähe zwischen Herausgeber und Diaristin der Edition nicht. Sorgfältig annotiert Ronen die Aufzeichnungen seiner Mutter, entschlüsselt, wenn möglich, unklare Zusammenhänge und legt Unsicherheiten in Fragen der Textüberlieferungen oder bei der Datierung von Einträgen dar.
Ein wichtiges und sehr unmittelbares Dokument einer jüdischen Widerstandskämpferin aus dem deutsch besetzten Polen liegt hier vor. Mitunter wirkt Klinger harsche Kritik an anderen - seien es jüdische Funktionäre in Palästina oder im besetzten Polen, seien es politische Aktivisten mit einer anderen Meinung als sie selbst oder sei es die sich zu passiv verhaltene "normale" jüdische Bevölkerung - verstörend, doch muss dies aus der sehr speziellen Schreibsituation heraus gelesen werden: Noch vor ihrer Flucht nach Palästina, also selbst noch in Lebensgefahr, notiert Klinger dies alles. Sie gibt detaillierte Einsichten in das Innenleben des Widerstands, in dessen Probleme sowie die innerjüdischen Diskussionen und Konflikte im Angesicht der permanenten Bedrohung durch die Nationalsozialisten. Und sie setzt in ihren Aufzeichnungen ihren ermordeten Weggefährten und Freunden ein persönliches und damit bewegendes Denkmal. Ihr Sohn wiederum hat als Herausgeber seiner Mutter mit dieser Edition ein ebenso wichtiges Denkmal gesetzt.
Anmerkung:
[1] Avihu Ronen: Nidonah la-ḥayim. Yomanah ṿe-ḥayeha shel Ḥayḳah Ḳlinger / Condemned to Life. The Diaries and Life of Chajka Klinger, Tel Aviv 2011.
Andrea Löw