Fabian Rausch: Konstitution und Revolution. Eine Kulturgeschichte der Verfassung in Frankreich 1814-1851 (= Pariser Historische Studien; Bd. 111), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, 486 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-060583-9, EUR 54,95
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Die Frage, wie sich die durch die Revolution von 1789 ausgelöste Spaltung der Gesellschaft überwinden lässt, war sicherlich das große Thema der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Auch die Historiographie hat sich immer wieder damit beschäftigt, weshalb es nicht gelang, die aus der Revolution und den nachfolgenden Verwerfungen hervorgegangenen "deux France" wieder zusammenzuführen und so etwas wie politische und soziale Stabilität zu erreichen. Die Lebensdauer der Regimes, ob Monarchie, Republik oder Empire, war bekanntlich kurz, was François Furet dazu bewogen hat, in seinem 1988 erschienenen Band der "Hachette Histoire de France" die Zeitspanne von 1770 bis zur Etablierung der Dritten Republik 1880 schlicht als "La Révolution" zu bezeichnen. Diese "Meistererzählung", die in der nach heftigen Geburtswehen schließlich entstandenen parlamentarischen Republik quasi den notwendigen Zielpunkt der Geschichte des nachrevolutionären Frankreich erreicht sieht, möchte Fabian Rausch in dem hier vorzustellenden Buch "Konstitution und Revolution" auf den Prüfstand stellen. In seiner Studie, die auf einer an der Universität Freiburg bei Jörn Leonhard entstandenen Dissertation basiert, geht er der Frage nach, ob nicht das integrative Potential der Verfassungen der ersten Jahrhunderthälfte, also der 1814 erstmals erlassenen und 1830 revidierten charte constitutionelle und der republikanischen Verfassung von 1848, in einer solchen Perspektive systematisch unterschätzt und damit die grundsätzlich Offenheit der historischen Entwicklung verkannt wird.
Kernüberlegung der Studie ist, dass Verfassungen neben einer "instrumentellen, regulativen Funktion" auch eine "symbolische, integrative Funktion" besitzen - diese ist es, die Fabian Rausch mit seiner Untersuchung in den Blick nehmen will. Man sollte sich daher auch nicht wundern, wenn von den Verfassungstexten, ihrer Entstehung, ihren konkreten Bestimmungen und deren Auslegung im Buch kaum die Rede ist; es genügen dem Autor wenige Seiten, um die charte constitutionelle von 1814 oder die Verfassung der Zweiten Republik vom 4. November 1848 zu skizzieren. Denn es geht ihm gar nicht so sehr um die Verfassungsbestimmungen im Einzelnen, als vielmehr um die "Repräsentation bestimmter Ordnungsvorstellungen" (alle Zitate 19), die mit der Verfassung verbunden waren. Wie wird über sie gesprochen, welche Erwartungen werden mit ihr verknüpft, wie groß ist ihre Akzeptanz, inwieweit trägt sie, indem sie den ordnungspolitischen Debatten einen Fixpunkt liefert, zur Integration der Gesellschaft und zur Stabilität des Gemeinwesens bei? Oder, andersherum: Wie attraktiv erscheint es den politisch Handelnden, die Lösung gesellschaftlicher Konflikte nicht im Rahmen der bestehenden Konstitution, sondern (um den zweiten Terminus des Buchtitels aufzugreifen) in der Revolution zu suchen?
Die Studie ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut: Je ein großer Block widmet sich der Restaurationsperiode (1814-1830), der Julimonarchie (1830-1848) sowie der Zweiten Republik; innerhalb der drei Regimes wiederum orientiert sich der Autor durchaus konventionell an den wichtigsten politischen Zäsuren wie Wahlen oder Regierungswechseln.
Im Zentrum der Analyse steht dabei zunächst der politische Diskurs im engeren Sinne - die verfassungspolitischen Debatten in den Parlamenten, in der politischen Theorie, in der breiten politischen Publizistik, vom intellektuellen Höhenkamm bis in die Niederungen von Wahlreden oder Kommentaren in der Tagespresse. Daneben interessiert sich Rausch aber auch für die visuelle(n) Repräsentation(en) der Verfassung, sei es im zweidimensionalen Bild (wie dem großen, traditionellen Herrscherporträt), sei es in dreidimensional-bewegten Inszenierungen und Ritualen (wie etwa dem Thronwechsel von 1825 und den "zivilen" Festen des Frühjahrs 1848. Den dritten Strang seiner Analyse bildet die Verfassungspraxis (etwas unnötig hochgestochen als "praxeologische Erweiterung" der Kulturgeschichte bezeichnet), die Rausch vor allem am Beispiel des Wahlaktes untersucht.
Das integrative Potential der Verfassung war, ohne dass Rausch dies so explizit formuliert, vermutlich in der Restaurationsperiode am größten. Die Deutungsoffenheit, die für dieses Potential verantwortlich war, war in der charte constitutionelle Ludwigs XVIII. von Beginn an angelegt: Während Legitimisten an der Verfassung vor allem ihren nicht-kontraktuellen, allein in der Souveränität des Monarchen begründeten Ursprung schätzten und sich bemühten, die Charte in eine Traditionslinie mit den vorrevolutionären Grundgesetzen des Königreichs zu stellen, ließen Liberale wie etwa Benjamin Constant die Souveränitätsfrage bewusst außen vor und betonten stattdessen, dass Frankreich mit der Charte endlich der Übergang zu Verfassungsstaatlichkeit und "gouvernement représentatif" gelungen sei. Für beide Auffassungen erwies sich die Charte als anschlussfähig - und entsprechend aktiv waren die Publizisten, aber auch die aktiven Politiker der beiden konkurrierenden Lager bei dem Versuch, den "Sinn" der Verfassung den eigenen Absichten entsprechend zu deuten. Beide Lager entwickelten daher ein Interesse daran, ihre Ziele innerhalb, ja geradezu mithilfe der bestehenden Verfassungsordnung zu verfolgen. Besonders die Liberalen konnten so die lange Phase, die sie auf den Oppositionsbänken verbrachten, mit der Hoffnung auf eine zukünftige Evolution des Regimes überbrücken.
Einen derartigen "normativen Überschuss" - so Rausch in Anlehnung an eine Wortprägung Jan-Werner Müllers - besaß auch die Verfassung der Zweiten Republik; hier waren es die Republikaner, die nach dem desillusionierenden Bürgerkrieg vom Juni 1848 und den herben Wahlniederlagen vom Dezember 1848 und Mai 1849 die traurige Verfassungswirklichkeit nur durch die Aussicht auf eine erfolgreichere, im Rahmen der Verfassung durch systematische Erziehungsarbeit (und nicht durch revolutionären Aufstand) zu realisierende Zukunft ertragen konnten. Und auch für die Konservativen entwickelte die Republik durchaus eine gewisse Bindungskraft, die Rausch treffend als "Integration qua Resignation" (436) beschreibt - quasi das negative Pendant zum "normativen Überschuss": Auch wenn man sich mit dem Prinzip der republikanischen Staatsform weiterhin nicht anfreunden bzw. deren Legitimitätsfundament nicht akzeptieren konnte, so erkannten doch zumindest einige der führenden Persönlichkeiten der "Ordnungspartei", dass angesichts der Uneinigkeit in den eigenen Reihen konservative Interessen nur in der Republik erfolgreich durchgesetzt werden können. Überzeugend argumentiert Rausch daher, dass in den Jahren 1849 bis 1851 in beiden politischen Lagern Lernprozesse stattfanden, die schließlich nach 1870/71 die konstitutionelle Befriedung Frankreichs möglich machten.
Im Untersuchungszeitraum war es noch nicht so weit. Denn auch wenn Rausch sicherlich zu Recht die Möglichkeiten und Chancen einer Integration durch Verfassung vor allem während der Restaurationsperiode und der Zweiten Republik betont - in den entscheidenden Krisen 1830 und 1851 erwies sich die Bindung an die Verfassungen letztlich doch als zu schwach. Und während der Julimonarchie hatte, wie Rausch zeigen kann, die revidierte, nicht gänzlich neu gefasste Charte nie eine vergleichbare Akzeptanz gewinnen können. So ist es nur folgerichtig, dass der Autor in seiner Schlussbetrachtung vor allem die "Aporien" konstitutioneller Integration im Untersuchungszeitraum herausstellt (ein Begriff, von dem er geradezu inflationär Gebrauch macht). Problematisch war insbesondere, dass es in keinem der drei untersuchten Regimes gelang, Akzeptanz für politische Konkurrenz innerhalb einer verfassungsmäßigen Ordnung zu entwickeln: Das "illiberale Moment französischer Verfassungskultur" (444), so Rausch, blieb daher für die gesamte erste Hälfte des Jahrhunderts prägend.
So sehr man diesem Befund zustimmen mag und so überzeugend die Argumentation in den einzelnen, jeweils gut lesbaren und äußerst dicht belegten Kapiteln auch ist - ein wirklicher Dissens mit denjenigen Autoren, die Rausch anfangs als Vertreter der traditionellen Meistererzählung identifiziert hatte, ist hier nicht zu erkennen. Der Wert seiner Studie liegt daher weniger in einer spektakulären Neudeutung der Verfassungskultur, als vielmehr in der nuancierten, quellennahen Analyse der Ordnungsvorstellungen, die den politischen Diskurs zwischen dem Ende des ersten und dem Beginn des zweiten Kaiserreichs dominierten. In dieser Hinsicht setzt Rauschs Arbeit tatsächlich Maßstäbe - um sie wird in Zukunft niemand herumkommen, der sich für die politische Kultur des nachrevolutionären Frankreich interessiert.
Daniel Mollenhauer