Rezension über:

Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit (= Arbeiten zur Kirchengeschichte; Bd. 141), Berlin: De Gruyter 2019, IX + 337 S., ISBN 978-3-11-061488-6, EUR 99,95
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Rezension von:
Jonathan Reinert
Institut für Spätmittelalter und Reformation, Evangelisch-Theologische Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Christian Volkmar Witt
Empfohlene Zitierweise:
Jonathan Reinert: Rezension von: Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit, Berlin: De Gruyter 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 9 [15.09.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/09/34453.html


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Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit

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Das Jüngste Gericht ist eines der theologischen Themen, bei dem der Abstand zwischen verbreiteten Vorstellungen vergangener Jahrhunderte und der Gegenwart besonders groß ist - nicht nur in Gesellschaft und Politik, sondern ebenso in kirchlichen und theologischen Kontexten. Der Erforschung "dieses heute unliebsam gewordenen Theologumenons" (5) in den Konfessionen der Frühen Neuzeit hat sich der evangelische Theologe Frank Alexander Kurzmann in seiner Hamburger Dissertation angenommen. Denn im 16. und 17. Jahrhundert ist die Rede vom und die Argumentation mit dem Jüngsten Gericht transkonfessionell durchaus selbstverständlich. In welcher Weise sie dies ist, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich zwischen den drei großen Konfessionen (lutherisch, reformiert, römisch-katholisch) ausmachen lassen, dem geht der Autor "konfessionskomparatistisch" (3) nach.

An die "Einleitung" (1-20) zu Forschungsstand, Ansatz und Aufbau der Arbeit schließt zunächst ein Kapitel zu "Martin Luther" an (21-65). Angesichts dessen, dass die Thematik bei Luther zu behandeln mindestens ein eigenes Buch erforderlich gemacht hätte, wählt Kurzmann sinnvollerweise einen anderen Zugang als in den späteren Kapiteln, in denen die Quellen in der Regel erstmalig intensiver analysiert werden. Hier setzt sich der Autor mit einigen Thesen der Forschung (von Ole Modalsli, Notger Slenczka, Christian Danz, Johann Anselm Steiger und Austra Reinis) auseinander und prüft diese kritisch anhand exemplarischer Quellenauswertung. Thematisch von besonderem Gewicht sind die Fragen nach der Relevanz 'guter Werke', dem Realitätsgehalt des zukünftig erwarteten Gerichtes und dem Verhältnis von Erschrecken und Freude auf dessen Eintreten. Im Blick auf den Realitätsgehalt betont Kurzmann in Auseinandersetzung mit Slenczka und Danz zurecht die "Probleme einer ahistorischen Luther-Lesart" (38), wenn alle konkreten futurischen Erwartungen eines Jüngsten Gerichts als "Überbleibsel" (ebd.) mittelalterlicher Vorstellungswelten von einem vermeintlich modernetauglichen, subjektiv-individualistischen Kern abgesondert werden.

Im nächsten Kapitel über "Bekenntnisse gegen Allversöhnung" (66-98) wird die Verwerfung der 'Wiedertäufer' in der Confessio Augustana Artikel 17 und in reformierten Bekenntnissen untersucht. Diese würden - so der Vorwurf - eine zeitlich begrenzte eschatologische Strafe und letztendlich die Erlösung aller Menschen und Teufel lehren. Kurzmann unterscheidet methodisch sauber zwischen Fremdzuschreibungen und dem möglichen Selbstverständnis von Personen des täuferischen und spiritualistischen Spektrums. Obgleich diese Gegenprobe anhand einzelner täuferischer Quellen - beispielsweise des in diesem Zusammenhang häufig angeführten Hans Denck (vgl. 88-90) - im Grunde negativ ausfällt, formuliert der Autor schlussendlich dennoch sehr vorsichtig, dass der Vorwurf natürlich in seiner Pauschalität nicht haltbar sei, jedoch "[g]ewiss [...] einen wahren Kern" (92) habe und entsprechend eine "genauere Beschäftigung" (ebd.) nötig und "lohnend" (ebd.) wäre. Angesichts des bislang nicht wirklich auffindbaren 'wahren Kerns' scheint mir - bei aller Vorsicht aufgrund mangelnder Quellen - ein kritischerer Schluss näherliegend.

Es folgen die im Blick auf den 'konfessionskomparatistischen' Zugang zentralen Kapitel zu "Predigten über das Jüngste Gericht am Beispiel der Auslegung von Mt 25,31-46" (99-147), "Ausgewählte Aspekte der Auslegung von Apk 20 in frühneuzeitlichen Apk-Kommentaren" (148-208), in dem auch bildliche Quellen in die Interpretation einbezogen werden, und "Geistliche Dichtungen über das Jüngste Gericht in der Frühen Neuzeit" (209-253). Wie die Überschriften bereits zeigen, ist die Studie denkbar breit angelegt. Denn nicht nur wird zeitlich eine Spanne über knapp zwei Jahrhunderte gewählt (wobei die Mehrzahl der Quellen aus dem 17. Jahrhundert stammt), sondern es werden programmatisch auch verschiedene Gattungen in die Untersuchung einbezogen: Predigten, Bibelkommentare und geistliche Dichtungen. Die große Stärke des theologiegeschichtlichen Werkes, dem Thema in einem solch weiten Horizont nachgehen zu können, hat somit zugleich ihren Preis: Die einzelnen Autoren und ihre Werke werden kaum je für sich biografisch, sozial oder institutionell kontextualisiert und in den jeweiligen Entstehungs- und Kommunikationszusammenhängen interpretiert. Vielmehr erscheinen sie jeweils exemplarisch als Repräsentanten ihrer Konfession. Anders freilich wäre das herangezogene Material nicht zu bewältigen.

Das letzte materiale Kapitel ist noch einmal thematisch angelegt: "Das Jüngste Gericht als transkonfessionelles theologisches Argument gegen Hexenverfolgungen in der Frühen Neuzeit" (254-293). Kurzmann zeigt, wie Theologen aller drei großen Konfessionen "gegen die Hexenverfolgungen samt Folterungen und Tötungen Unschuldiger Kritik geübt und die Verantwortlichen politisch zum Umdenken aufgerufen haben, wenngleich sie gegenüber den Befürwortern der Hexenprozesse in der Minderheit waren" (258). Anders als später in der Aufklärung, als Hexerei und Zauberei als unvernünftig und abergläubisch abgetan wurden, argumentierten die Theologen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts theologisch mithilfe des Jüngsten Gerichts, vor dem sich auch die irdischen Richter zu verantworten hätten. Die "Frontline" (293) verlief in dieser Auseinandersetzung quer zu den Konfessionsgrenzen zwischen Befürwortern und Gegnern entsprechender Prozesse und Urteile.

Eine konzentrierte "Zusammenfassung" (294-309) rekapituliert die Ergebnisse und stellt in einigen Fällen Querverbindungen zwischen den Kapiteln her.

In einigen Fällen endet die Studie leider oder wagt nur sehr zurückhaltende Aussagen an genau den Punkten, an denen es spannend wird und man sich weitere Konkretion und Interpretation gewünscht hätte. Bezüglich des Allversöhnungsvorwurfs wurde dies bereits angedeutet. Ähnlich steht es mit der wahrscheinlichen Rezeption der Jona-Auslegung Luthers durch Michael Helding (vgl. 50-53). Reicht es aus, hier von einer bloß "strategischen Übernahme" (53) zu sprechen, um "einen Anknüpfungspunkt für Lutheraner" (ebd.) anzubieten, oder deutet ein solcher "interkonfessionelle[r] Austauschprozess" (ebd.) nicht eher auf Möglichkeiten positiver wechselseitiger Beeinflussung der entstehenden Konfessionen, die bislang kaum wahrgenommen wurden, weil der Blick in der Forschung zu stark auf kontroverstheologischen Themen lag? Ein weiteres Beispiel in Richtung sich verflüssigender Konfessionsgrenzen stellt meines Erachtens folgende von Kurzmann herausgearbeitete, jedoch nicht eingehender interpretierte Spannung dar: Einerseits wird im Blick auf das Thema Heilsgewissheit ein "grundsätzlich[er] Dissens" (295) zwischen den Konfessionen ausgemacht. Andererseits wird festgestellt, dass auch lutherische Theologen das Endgericht argumentativ als drohende Mahnung oder als lohnenden Anreiz einsetzen konnten und umgekehrt auch katholische Theologen in erbaulicher Literatur davon sprechen, "dass die Gläubigen ihres Heils dank Christi Heilstat gewiss sein dürfen" (296).

All diese Fragen zeigen, wie anregend die gründliche theologiegeschichtliche Studie von Kurzmann ist - und wie sehr die Beschäftigung mit dem Thema des Jüngsten Gerichtes in inter- und transkonfessioneller Perspektive in ganz unterschiedliche Felder der Erforschung der Frühen Neuzeit hineinreicht.

Jonathan Reinert