Omri Boehm: Israel - eine Utopie. Aus dem Englischen von Michael Adrian, Berlin / München: Propyläen 2020, 256 S., ISBN 978-3-549-10007-3, EUR 20,00
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Gab es je einen liberalen Zionismus? War der Linkszionismus liberal? Hat im heutigen Israel eine linksliberale Variante des jüdischen Nationalismus politisch eine Chance? Mit diesen Fragen setzt sich der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm auseinander. Über weite Strecken stiftet das Essay-Buch jedoch mehr Verwirrung als es für Klarheit sorgt. Das liegt daran, dass Boehm zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts eine bi-nationale Föderation propagiert, die er als durchaus zionistisch, sogar als "urzionistisch" begreifen will, sieht er hier doch den wahren liberalen Zionismus. Doch kann, die Frage sei erlaubt, ein Nationalismus wirklich liberal werden, geschweige denn solcher, der in äußerst konflikthafter Historie entstand und fest in ihr steckt?
Der erste Abschnitt "Was ist Vergessen?" setzt bei der in Israel etablierten Shoah-Erinnerungskultur an und ruft zu ihrer Entnationalisierung auf. Boehm beruft sich dabei auf das bekannte Manifest "Lob des Vergessens" (1988) des israelischen Historikers und Auschwitz-Überlebenden Yehuda Elkana sowie auf Philosophen wie Baruch von Spinoza, Friedrich Nietzsche und Ernest Renan. Ebenso setzt er sich mit Elie Wiesels "Die Nacht" auseinander. Der "messianischen Theologie des Holocausts" (71) wegen, die sich hier erkennen lasse, sei das Vergessen geradezu notwendig. Der zionistische Mythos von Shoah und Wiederauferstehung erkläre Wiesels Schweigen zu Israels Unterdrückungspolitik gegenüber den Palästinensern. Allerdings plädiert Boehm nicht dafür, die jüdische Shoah an sich zu vergessen; man solle sich vielmehr gemeinsam mit den arabischen Landsleuten daran erinnern, damit ein gemeinsames Narrativ möglich werde.
Die Juden Israels sind auch Adressat des zweiten Abschnitts "Die Nakba erinnern", in dem Boehm die Rolle der ethnischen Säuberung im Zionismus und damit im israelischen Diskurs thematisiert: Hätte das zionistische Israel ohne die Vertreibung der Palästinenser zwischen 1947 und 1949 entstehen können? Welche Rolle spielte der Linkszionismus in Israels Bevölkerungspolitik dieser Jahre und wie fassten linkszionistische Intellektuelle die Katastrophe der Palästinenser auf? Dabei diskutiert Boehm unter anderem David Ben-Gurions Überlegungen zu "jüdischer Macht und Umsiedlung in großen Zahlen" und zitiert Hannah Arendts Einsicht im Zuge der Jahresversammlung der Amerikanischen Zionistischen Organisation Ende 1944, der Unterschied in der Palästinapolitik revisionistischer Rechtzionisten und der linkszionistischen Arbeiterpartei sei unbedeutend. Schließlich wurden die Araber von Eretz Israel schon zu diesem Zeitpunkt von beiden zionistischen Lagern ausgeschlossen.
Zwischen 1947 und 1949 wurde David Ben-Gurions Idee der "Umsiedlung in großen Zahlen" Realität, für die nicht zuletzt die Hagana-Milizen verantwortlich zeichneten. Boehm thematisiert die Rolle des jungen Offiziers Jitzchak Rabin bei der Vertreibung der palästinensischen Einwohner Lyddas, schildert Golda Meirs Eindrücke der "toten Stadt" nach der Vertreibung von rund 67.000 Palästinensern aus Haifa, beschreibt das Massaker an den Bewohnern des Dorfs Deir Jassin - und bringt all das in Zusammenhang mit dem "Plan Dalet" der Hagana, der den Befehl einschloss, arabische Dörfer "zu erobern, zu säubern oder zu zerstören" (106).
Den linksliberalen Nakba-Diskurs in Israel zeichnet Boehm am Beispiel von Amos Oz und Ari Shavit nach. Auf dieser Basis zieht er die Schlussfolgerung, die Nakba sei im linksliberalen Bewusstsein kaum vorhanden, vielmehr beförderten die Texte dieser beiden prominenten Autoren des Linkszionismus das Verdrängen und Vergessen. Shavit etwa kommt bei seinen Ausführungen zum Unabhängigkeitskrieg ohne den Begriff Nakba aus, er konstruiert vielmehr die "Überlebensfrage" des jüdischen Staats, "entweder den Zionismus wegen Lydda abzulehnen oder ihn einschließlich Lyddas zu akzeptieren" (127). Für die Linksliberalen sei die Nakba letztendlich "das 'düstere Geheimnis' des Zionismus" (128). Andere Stimmen gingen offensiver mit diesem Thema um. Benny Morris, der israelische Historiker der palästinensischen Flüchtlingsfrage, erklärte mitten in der Zweiten Intifada zum Erstaunen vieler Linkszionisten, man hätte im Sinne eines stabilen jüdischen Staats 1948 alle Palästinenser vertreiben müssen.
Solche Narrative gelte es in einer bi-nationalen Föderation naturgemäß zu überwinden. Doch Boehm zweifelt an den Linkszionisten, die bezüglich der Pläne Benjamins Netanjahus "hin- und hergerissen" sind, palästinensische Gebiete im Westjordanland zu annektieren: "Sollen sie dieses Programm billigen? Sich in Doppeldeutigkeiten flüchten und es stillschweigend hinnehmen? Sollen sie sich der Ansicht anschließen, dass Ben-Gurion doch im Unrecht war, als er [1948] die Sache nicht zu Ende brachte?" (141)
Umso erstaunlicher wirkt der dritte Abschnitt unter der Überschrift "Der liberale Zionismus der Zukunft": Boehm liest hier frühzionistiche Texte neu, und zwar unter der Frage, ob der Zionismus nicht doch als eine bi-nationale Idee in Palästina-Eretz Israel gedacht wurde. Theodor Herzl, Achad Ha'am, Zeev Jabotinsky und David Ben Gurion hätten demnach unter den Bedingungen in Palästina Anfang des 20. Jahrhunderts einen bi-nationalen Zionismus vor Augen gehabt und angestrebt: Herzl sei die Idee einer vollständigen jüdischen Souveränität "völlig fremd" gewesen (175), Jabotinsky habe vom "Nationalitätenstaat" gesprochen, während sich Ben Gurion für ein autonomes nationales Gebiet unter osmanischer Herrschaft engagiert habe. Daher sei die bi-nationale Föderation eigentlich ein "einst urzionistischer Konsens" (187).
Zeitgenössische linksliberale Intellektuelle wie Moshe Halbertal und David Grossman kritisiert Boehm für ihren enggefassten, ethnisch-jüdisch orientierten Diskurs. Als Linksliberale sollten sie lieber "den Israelis dabei helfen, die simplifizierende Idee vom eigenen Heim der Juden zu überwinden, und es ihnen ermöglichen, sich die jüdische Selbstbestimmung - und nicht Souveränität - in einer Republik vorzustellen: einem Staat, der all seinen Bürgerinnen [sic!] als solchen gehört" (152). Doch die Realität sieht anderes aus: 2018 verabschiedete die israelische Knesset das Grundgesetz "Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes" und setzte damit auf jüdische Souveränität in Eretz Israel. Selbst wenn die Linkszionisten die weniger jüdisch-nationalistisch formulierte Unabhängigkeitserklärung von 1948 bevorzugen, kann Boehm zeigen, dass sich auch dieses Gründungsdokument als unzureichend für einen liberalen Zionismus erweist.
Ein solcher Zionismus wäre in Form einer "Republik Haifa" (vierter Abschnitt) vorstellbar. In der Aufkündigung des Oslo-Status quo durch Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und in Menachem Begins Autonomieplan von 1978 sieht Boehm Perspektiven für eine Föderationslösung. Die Regierung Begin brachte die "Selbstverwaltung für palästinensische Araber, Einwohner von Judäa, Samaria [also des Westjordanlands] und des Gaza-Distrikts" (205) durch die Knesset; dies sei ein wichtiges Moment der "nationalen Selbstbestimmung". Begins Plan "verwandelt die Bedeutung der jüdischen Souveränität in Israel radikal, indem er diese über die Grenzen des uns vertrauten Zionismus hinaustreibt und in eine Politik überführt, die eher aus dem binationalen Zionismus vor dem Holocaust und vor der Nakba bekannt ist" (210). Überzeugend ist das nicht - ebenso wenig wie der Verweis auf das Leben in gemischten jüdisch-arabischen Städten wie Haifa oder Jaffa, die Boehm für zukunftweisend hält.
"Israel - Eine Utopie" ist ein in sich zerrissenes Buch - zerrissen zwischen der bitteren Realität eines historisch gewachsenen jüdischen Nationalismus im zionistischen Israel und der geradezu verzweifelten Suche nach dem ersehnten Ausweg aus der Sackgasse des Konflikts mit den Palästinensern. Eine bi-nationale Föderation wäre sicher vernünftig im Sinne eines gerechten Friedens, zumal sich aus einer Erinnerungspolitik, die über der Shoah auch die Nakba nicht vergisst, auch Potential für einen liberalen Zionismus ergäbe. Doch weil der Zionismus spätestens 1948 keineswegs den liberalen Weg einschlug, kam der neue Staat nie ohne den militärischen Sachzwang aus, die verbliebene arabische Bevölkerung so weit wie möglich zu kontrollieren. Gerade Linkszionisten wie Ben-Gurion, Levi Eshkol, Moshe Dayan, Golda Meir, Shimon Peres, Jitzchak Rabin bis zu einem Ehud Barak der Jahre 1999/2000 haben über Jahrzehnte hinweg den Konflikt mit den Palästinensern so zementiert, dass für eine liberale Variante des Zionismus spätestens seit dem Jahr 2000 kein Platz mehr ist; vom Rechtzionismus unter Menachem Begin, Jitzchak Shamir, Ariel Sharon oder Benjamin Netanjahu ganz zu schweigen. Für eine friedliche Zukunft bedürfte es einer Utopie jenseits jeglichen Zionismus.
Tamar Amar-Dahl