Johanna Hellmann: Marie Antoinette in Versailles. Politik, Patronage und Projektionen, Münster: Aschendorff 2020, 402 S., 15 Farb-, 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-402-24672-6, EUR 57,00
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Erzherzogin Maria Antonia Josepha Johanna, als Königin von Frankreich unter dem Namen Marie Antoinette bekannt, darf sicher als eine der Fürstinnen des 18. Jahrhunderts gelten, über die am meisten geschrieben worden ist. Das gilt schon zu ihren Lebzeiten insofern, als sie sowohl im Vorfeld als auch während der Französischen Revolution im Zentrum umfangreicher Polemik stand. Das gilt sicher aber nach ihrer Hinrichtung als "Witwe Capet", und das gilt sowohl für die wissenschaftliche wie die literarische Beschäftigung mit ihrer Person.
Johanna Hellmann nimmt die ausgeprägte Präsenz der Königin in der kollektiven Erinnerung zum Ausgangspunkt ihrer 2018 in Tübingen vorgelegten Dissertation, setzt sich aber zum Ziel, jenseits von zeitgenössischer Polemik und literarischer Idealisierung der Person nach ihrer Stellung als Dauphine von Frankreich bzw. als Königin zu fragen. Verhaltensnormen für die und Handlungsspielräume einer Dauphine bzw. Königin will sie skizzieren, nach "Möglichkeiten politischer Mitbestimmung" (2) ebenso suchen wie nach dem Agieren der Person in den Strukturen des Hofes. Zudem nimmt sie Erwartungshaltungen am französischen Hof ebenso wie in hoffernen Kreisen in den Blick und will damit Sichtweisen hinterfragen, die von Zeitgenossen an die Königin herangetragen wurden.
Dabei konzentriert sie sich vorrangig auf die ersten zehn Jahre Marie Antoinettes in Frankreich, also auf die Zeit zwischen 1770 und 1780, weil es ihr Ziel ist, weniger biographisch als vielmehr exemplarisch zu arbeiten (5, 7): Anhand der Person Marie Antoinette sollen Agieren und Verhalten von Dauphine bzw. Königin für das 18. Jahrhundert allgemein skizziert werden. Deshalb klammert die Autorin die Entwicklungen im direkten Vorfeld der Revolution bewusst aus. Zudem wird im Laufe der Untersuchung verschiedentlich vergleichend auf Gemahlinnen bzw. Mätressen Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. von Frankreich Bezug genommen.
Die Darstellung beginnt mit einer eher knappen Einleitung, in der Zugang, Quellen und Forschungsstand skizziert werden. Dieser folgt eine biographische Skizze zu Marie Antoinette, die eine Art Rahmen für die folgende, wie erwähnt auf zehn Jahre beschränkte, detailliertere Untersuchung abgibt. Diese schließt sich dann in drei Teile gegliedert an: Im ersten Abschnitt (65-158) versucht die Autorin, Rahmenbedingungen für das Handeln von Dauphine bzw. Königin als politische Akteurin, als Netzwerkerin sowie als Projektionsfläche (einer höfischen wie nichthöfischen Öffentlichkeit) zu skizzieren, die durch konkrete Befunde für Marie Antoinette illustriert werden. Im zweiten Teil (159-216) erörtert die Autorin Aspekte des Gesandtschaftswesens am französischen Hof, denn die Hauptquellengrundlage des dritten Teils der Studie (217-343) bilden Gesandtschaftsberichte aus Paris. Vergleichend betrachtet Johanna Hellmann im dritten, umfangreichsten Abschnitt die Berichterstattung der jeweiligen diplomatischen Vertreter nach Wien, Berlin, Dresden und München. Im Detail zeichnet sie hier nach, wie die Gesandten des kaiserlichen und der kurfürstlichen Höfe die Person Marie Antoinettes und ihr Agieren in ihren Berichten reflektierten. Eine knappe Zusammenfassung, ein Anhang mit Überblicksmaterial sowie Quellen- und Literaturverzeichnis und (dankenswerterweise) Registern schließen den Band ab.
Zweifellos hat die Autorin Recht mit ihrer Feststellung, dass trotz zahlreicher Biographien und Detailuntersuchungen bislang nicht alles über Marie Antoinette gesagt worden sei (2). Gerade die Darstellung ihres Agierens als Königin in Netzwerken und politischen Kontexten könnte vor dem Hintergrund der neueren Forschungen zu Frauen und dynastischer Herrschaft Interessantes zutage fördern. Die umfangreiche Quellenlektüre, der sich die Autorin mit der Auswertung verschiedener paralleler Gesandtschaftsberichte unterzogen hat, liefert neues Material. Zudem lassen sich in diesen Berichten Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Information über das französische Königshaus ebenso wie über die Aktivitäten der Dauphine bzw. Königin erkennen, die die Verfasserin herausarbeitet. Dazu gehört nicht zuletzt, dass sich aus dieser Berichterstattung generelle Probleme etwa bei der Akkulturation und Einbindung einer einheiratenden Fürstin am neuen Hof gut erhellen lassen: Marie Antoinettes Beziehungen zu den "Mesdames", den Töchtern Ludwigs XV. (z.B. 248), ihre Probleme mit der höfischen Institution der Maitresse-en-titre (z.B. 257), die sie aus Wien nicht kannte, oder auch mit der permanenten Zugänglichkeit der königlichen Gemächer werfen hier interessante Schlaglichter.
Generell ist jedoch festzuhalten, dass die Stärke der Darstellung eher in der Quellenarbeit liegt - die Autorin bemüht sich insbesondere, die ja in ihrer Aussagekraft nicht unproblematischen Gesandtenberichte sorgfältig quellenkritisch zu hinterfragen. Analytisch hätte das verwendete Material jedoch mehr erlaubt, zumal wenn es Johanna Hellmann gelungen wäre, die Forschungslage adäquater abzubilden (siehe etwa den eher lückenhaften Überblick 10-12) und für die Interpretation ihrer Befunde zu nutzen. Dieses Manko zeigt sich an vielen Stellen, etwa in ihrem Gebrauch des Begriffes einer "Souveränität" der Königin (z.B. 3, 113 und oft), die der des Königs entsprochen habe. Hier reflektiert sie geschlechtsspezifische Ausprägungen von dynastischer Herrschaft zu wenig. Die noch in der Zusammenfassung (261) konstatierten deutlichen Unterschiede in den Handlungsspielräumen von Dauphine und Königin werden zwar im Buch durchgehend postuliert, lassen sich aus den einleitenden Ausführungen dazu (96-102, 122-130 usw.) jedoch nicht bzw. nicht in erheblichem Umfang ablesen. Die politische Dimension von Netzwerken ist der Autorin nicht deutlich; hinsichtlich politischer Handlungsfähigkeit argumentiert sie ausschließlich in Hinblick auf die - zweifellos wichtige - Beziehung zum Dauphin bzw. König. Verschiedene weitere Aspekte ließen sich anführen. Damit muss am Ende festgehalten werden, dass auch nach dem Abschluss der nun als Buch vorliegenden Studie an Johanna Hellmanns eigenem Postulat festzuhalten ist: Weder über Marie Antoinette noch über die französischen Königinnen des 18. Jahrhunderts ist bereits alles geschrieben.
Katrin Keller