Frederik C. Gerhardt: London 1916. Die vergessene Luftschlacht (= Schlachten - Stationen der Weltgeschichte), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, 266 S., 48 s/w-Abb., 2 Kt., ISBN 978-3-506-73247-7, EUR 29,90
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Am Uferabschnitt Victoria Embankment steht an der Themse noch heute eine antike Sphinx, die die Beschädigungen durch einen deutschen Luftangriff im Ersten Weltkrieg trägt, wie eine Gedenkplakette verdeutlicht. In Großbritannien sind die deutschen Luftangriffe dieser Zeit, seien sie durch Zeppeline, seien sie durch Flugzeuge erfolgt, bis heute nicht vergessen. Vielfach bildet das Kriegserlebnis des Zweiten Weltkrieges die Vergleichsfolie. Dagegen spielt dieser Aspekt des Ersten Weltkrieges in Deutschland, dessen Erinnerungskultur eher auf die Westfront mit ihren Millionen von Toten ausgerichtet ist, kaum eine Rolle. Frederik C. Gerhardt möchte die Bombenangriffe deshalb ins Bewusstsein der deutschen Leser rücken.
Dieses Vorhaben dürfte dem Autor dank seines flüssigen und anekdotenreichen Stils, versehen mit vielen und teilweise sehr langen Zitaten, ohne Frage gelingen. Ambivalent ist allerdings der Aufbau. So füllt allein die Vorgeschichte über 50 Seiten. Für Spezialisten ist dies einerseits zu lang, bevor sich Gerhardt dem eigentlichen Gegenstand des Buches, nämlich den deutschen Luftschiffangriffen auf London, ungefähr auf der Hälfte der Seiten widmet. Für die interessierte Leserschaft, die einen raschen Einstieg in das Thema sucht, ist dieser lange Vorspann andererseits durchaus von Interesse. In angemessener Kürze skizziert der Autor die Visionen des Bombenkrieges seit der Frühen Neuzeit und natürlich vor allem die Entwicklung der Luftfahrt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, die letztlich Luftschiffe und Flugzeuge hervorbrachte, über deren Bestimmung in den Ländern der später kriegführenden Mächte teils heftig gestritten wurde. Flugzeuge waren kleiner, wendiger und billiger, konnten aber nur geringe Lasten über kurze Entfernungen tragen. Luftschiffe, von denen die Zeppeline auch aufgrund des populären Grafen die bekanntesten wurden, waren in der Anschaffung enorm teuer, schwer zu navigieren und gerade bei Tageslicht sehr gut sichtbar. Dafür konnten sie Bomben auch über große Strecken transportieren. Aus diesem Grund wurde der Bau solcher Luftschiffe im Kaiserreich besonders gefördert.
Für Großbritannien und seine Bevölkerung hatte diese Entwicklung enorme Auswirkungen. Der Flug Blériots über den Ärmelkanal 1909 und die Entwicklung der Luftschiffe verdeutlichten die eigene Verwundbarkeit; die Royal Navy konnte die Heimat nun nicht mehr generell schützen. Mochte Großbritannien auch die Wellen regieren, so galt dies nicht für das Meer der Lüfte. Gerhardt beschreibt diese Entwicklung, die von der zeitgenössischen europäischen und amerikanischen Bevölkerung voller Interesse in den Zeitungen rezipiert werden konnte, mit leichter Hand. Er bleibt dabei auf dem Boden der Sekundärliteratur. Mit der Analyse des ersten Angriffs eines deutschen Zeppelins auf die Festung Lüttich am 5. August, und somit direkt zu Beginn des Ersten Weltkrieges, stützt sich der Autor auch auf Quellen, die er im Militärarchiv in Freiburg gesichtet hat. Dort sind die erhaltenen Kriegstagebücher der Luftschiffer und diverse Akten zur Entwicklung der deutschen Luftschiffwaffe in ihren Anfangsjahren zu finden. Darüber hinaus hat er für die britische Perspektive Akten in den National Archives in Kew gesichtet. Schnell wird klar, dass sich die deutschen Militärs bewusst waren, dass die Wirkung von Luftschiffangriffen weniger in der Zerstörung von Festungen und Nachschubwegen lag, vielmehr war der psychologische Effekt bedeutsam. Heer und Marine bezogen von Anfang an eine Bombardierung Londons in ihre Überlegungen ein. Beide scheiterten zum einen an der geringen Zahl der verfügbaren Luftschiffe, deren Aufklärungsflüge an der Westfront immer wieder in Abstürzen endeten. Zum anderen scheiterten sie an den Bedenken des Kaisers selbst, der vor einem Angriff Londons zurückschreckte. Eine erste Bombardierung im Januar 1915 wurde nur deshalb befürwortet, weil die Docks von London als Ziel jenseits der Innenstadt lagen.
In den folgenden Kapiteln beschreibt und analysiert der Autor zwei große Luftangriffe auf Südengland und London, nämlich von 16 Luftschiffen in der Nacht auf den 3. September und zwölf weiteren in der Nacht vom 23. September 1916. Die Ereignisse innerhalb dieser drei Wochen markieren zugleich den Höhepunkt und das Ende größerer Bombardierungen durch das deutsche Heer und die Marine mittels Luftschiffen. Denn schon während des ersten Angriffs gelang es einem britischen Piloten, ein deutsches Schütte-Lanz Luftschiff abzuschießen. Der daraufhin hoch dekorierte Lieutenant Robinson hatte bewiesen, dass die riesigen Bomber verwundbar waren. Diese Erkenntnis sollte sich während des zweiten Angriffes vertiefen, als ein beschossenes Luftschiff über einem Londoner Vorort abstürzte und ein weiteres nach Beschuss notlanden musste. Immerhin konnte sich hier die Besatzung retten. Der Autor zeichnet die einzelnen Angriffe der Luftschiffe anhand der Berichte der Luftschiffkommandanten nach. Dadurch wird deutlich, wie schwierig die Navigation der Bombenwerfer in Dunkelheit, bei strömendem Regen und starken Winden war. Kaum eines der Schiffe warf seine Bomben über den vermeintlich richtigen Zielen ab, die Abdrift war jeweils zu stark. Technische Schwierigkeiten taten ihr übriges, so dass viele der Luftschiffe nur mühsam ihre Heimatziele erreichten. Getroffen wurden zivile Objekte, so dass hauptsächlich Zivilisten starben. Da auch Kinder und Jugendliche unter den Opfern waren, bezeichnete man die Luftschiffe als "baby killers".
Auf die Frage nach dem militärischen Sinn gibt Gerhardt eine ausführliche Antwort. Wenn man alleine die hohen Verluste an verwendungsfähigen Luftschiffen samt Besatzung auf deutscher Seite in Beziehung zur angerichteten Zerstörung setzt, war die militärische Wirkung kaum messbar. Wenn man allerdings den Aufwand, den die Luftverteidigung bedeutete und den psychologischen Effekt betrachtet, sieht das Bild anders aus. Die Tatsache, dass die Hauptstadt jederzeit ein Opfer der "baby killers" werden konnte, führte dazu, dass die Londoner erstmals in den Tunneln der U-Bahn Schutz suchten - eine Erfahrung, die sich rund 25 Jahre später in stärkerem Ausmaß wiederholen sollte. Jedoch wurde die angestrebte Schwächung der Moral der Hauptstadtbevölkerung nicht erreicht, die keineswegs gegen die Regierung aufbegehrte, damit diese den Krieg beendete. Gerhardt beschreibt vielmehr, dass das gemeinsame Erlebnis der Angst vor den Bombenangriffen die Menschen zusammenhielt und der Hass auf die "Huns" zunahm. Zudem war der propagandistische Effekt auch gegenüber dem neutralen Ausland katastrophal. Schließlich machten die Abschüsse der Luftschiffe auch Mut; die britische Luftabwehr hatte sich bewährt. Später sollte sie erneut durch riesige Bomberflugzeuge unter Druck gesetzt werden, die die Hauptstadt des Empire ab 1917 heimsuchten. Resultat war wiederum eine Reorganisation der zuvor nach Heer und Marine getrennten Luftwaffen. Die Gründung der Royal Air Force lässt sich ohne den Druck deutscher Bomber auf Regierung und Militärs nicht erklären.
Von einer "Luftschlacht", wie im Titel angegeben, kann keine Rede sein. Der ist wohl der Reihe geschuldet, in der das Buch erschienen ist. Trotzdem hat er eine gewisse Berechtigung: Im September 1916 zeigte sich erstmals die Fähigkeit der Luftverteidigung Londons, das zuvor weitgehend schutzlos gewesen war. Dank ausgefeilter Logistik konnten die schwerfälligen Luftschiffe durch Flugzeuge effektiv bekämpft werden. Gerhardt leistet für ein breiteres Publikum nicht nur einen Beitrag, einen vergleichsweise vergessenen Aspekt des Ersten Weltkrieges ins Bewusstsein zu rücken. Er zeigt außerdem, dass mit diesen ersten Luftangriffen die Strategie des Bombenkrieges früh ausgefeilt war, die bis heute auf einem Irrtum basiert: Nämlich, dass der Abwurf von Bomben Kriege beendet. Unsere Gegenwart zeigt, dass dieser Irrtum noch heute weltweit für viele Tote und großes Leid verantwortlich ist.
Florian Schnürer