Mariacarla Gadebusch-Bondio / Christian Kaiser / Manuel Förg (Hgg.): Menschennatur in Zeiten des Umbruchs. Das Ideal des politischen Arztes in der Frühen Neuzeit, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, VII + 260 S., ISBN 978-3-11-060953-0, EUR 89,95
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Der 9 Beiträge umfassende Band geht auf die im Januar 2018 vom Medizinhistorischen Institut der Universität Bonn veranstaltete Tagung Menschennatur in Zeiten des Umbruchs - Verhandlungen zwischen Politik und Medizin zurück. Von den damaligen 16 Referaten wurde jedoch nur die Hälfte in den Band übernommen, die gerontologische Abhandlung des Kölner Medizinhistorikers Daniel Schäfer wurde nachträglich hinzugefügt. Die brennende Aktualität des Themas angesichts der Corona-Pandemie hat sich erst in diesem Jahr ergeben und schlägt sich in dem gedruckten Band nur in der Einleitung der Herausgeber nieder, wo kurz von dem ersten prominenten Todesopfer des Virus die Rede ist (1f., Fn. 3), dem chinesischen Arzt Li Wenliang in Wuhan, der Anfang 2020 noch öffentlich vor der Gefahr gewarnt hatte und deshalb als Staatsfeind festgenommen wurde (dazu der Hinweis auf den Bericht im SPIEGEL vom 7.02.2020). Aber auch ohne weitere explizite Parallelen, die den Band sicherlich überfordert hätten, kann sich der aufmerksame Leser im Blick auf den aktuellen Umgang mit der Epidemie die bekanntlich erkenntnisfördernden Vorteile historischer Distanz zunutze machen.
Thema ist laut Einleitung der Herausgeber Mariacarla Gadebusch Bondio und Christian Kaiser (beide Bonn) die Frühgeschichte der funktionalen Verknüpfung von Medizin und Politik, einer "Ausweitung der ärztlichen Verantwortung" von der individuellen "Gesundheit" auf das (auch soziale) "Wohlbefinden des Patienten", das eben nicht ohne tätige Mitverantwortung des Arztes für das bonum commune, also für Staat und Gesellschaft, zu befördern sei (3). Den zahlreichen Aspekten und Faktoren dieses eminent auf Institutionen, Interessen und politische Macht bezogenen Handlungskomplexes auf seinen verschiedenen Ebenen und Teilgebieten, wie diese in maßgeblichen Schriften seit dem späten 16. Jh. angesprochen und reflektiert werden, gelten die Studien der Einzelbeiträge.
Am Beginn steht die Untersuchung Christian Kaisers über die epochemachende Syphilis-Schrift des Veroneser Renaissancegelehrten Girolamo Fracastoro (ca. 1477-1553), der in einem Lehrgedicht in lateinischen Versen vor allem die Ätiologie der Seuche revolutionierte (Syphilis sive De morbo gallico, 1530). Orientiert am epikurischen Vitalismus des Lukrez [1], der weithin als häretisch gilt, erklärt Fracastoro die Infektion nicht mehr durch giftige Ausdünstungen (Miasmen) der 'Erde', sondern durch krankmachende Keime (semina morbi, so auch im Hautptwerk De contagione, 1546), und wir werden auch noch einmal mit dessen Verarbeitung der Herkunfts-Legende der Krankheit aus dem Syphilus-Mythos bekannt gemacht, von dem der Name abgeleitet ist. Das Porträt des "Iatropoeten" und poeta medicus (41), das im Detail auch neue Aspekte sichtbar macht, lässt freilich, wie der ganze Band, den von den studia humanitatis geprägten Typus des 'humanistischen Arztes' unberücksichtigt, des medicus philologus, ein dem medicus politicus benachbartes (und ihn vielleicht auch kontrastierendes) Rollensegment des frühneuzeitlichen Arztes [2], und es fehlt ebenso auch jede Bezugnahme auf den zu jener Zeit so erfolgreichen Paracelsismus und dessen Verhältnis zur Medico-Politik. [3]
Die folgenden Beiträge der Herausgeberin mit Katharina-Luise Förg sowie von Manuel Förg (alle Bonn) erschließen Rodrigo de Castros (1546-1627) programmatische Schrift über den Medicus-politicus sive de officiis medico-politicis [...] (Hamburg 1614), mit der dieser "den Begriff der 'Politik' ('politia') in die frühneuzeitliche medizinische Literatur einführte ('oeconomia sive politia')" (88). De Castro aus Lissabon hatte in Salamanca Medizin studiert und sich als jüdischer Marrane über Antwerpen nach Hamburg gerettet, wo er erfolgreich durch seine ärztliche Praxis und seine Schriften für das innovative Programm des 'idealen Arztes' wirkte. Manuel Förg konzentriert sich auf de Castros aus Anlass der Hamburger Pestepidemie von 1596/97 erschienenen Tractatus brevis de natura, et causis pestis. Beide Beiträge enthalten im Anhang Abschriften der Titel und Vorreden mit jeweils neuen Übersetzungen, jedoch wäre der viel genauere Titel der ersten deutschen Übersetzung des Medicus-politicus von Franz Joseph Schmidt (Hamm 1984), "Verhaltenskunde für einen in der Öffentlichkeit stehenden Arzt" (101), der neuen, bloß wörtlichen Übertragung sicherlich vorzuziehen gewesen. In der eindrucksvollen Darstellung des ebenfalls aus Portugal stammenden Botanikers und Arztes Amato Lusitano (1511-1568) durch Dietrich von Engelhardt erfahren wir von einem weiteren jüdischen Marranen, der von Salamanca über Antwerpen nach Ferrara, Ancona und Venedig flüchten musste, ehe er in Thessaloniki selbst ein Opfer der Pest wurde. Die aspektreichen Studien von Daniel Schäfer (Köln) über "Gutes Alter(n) als Tugend?" und Oliver Bach (München) über "Medizinische Wahrheit" im späthöfischen Roman J. M. von Loëns, Der redliche Mann am Hofe (1740) sowie Eva-Maria Hofers (München) "Gerichtsmedizinische Betrachtung des Schlafwandelns" können hier leider nur genannt werden. In dem wohl besten Beitrag handelt Sabine Schlegelmilch (Würzburg) vom "Selbstbewusstsein der Chirurgen. Tobias Geigers Discursus Medicus et Politicus (1656)" und führt uns den Aufstieg der Chirurgie gegenüber der traditionell dominanten, ganz auf Medikation beschränkten akademischen Medizin vor Augen. [4] Der bayerische Chirurg (1575-ca. 1657), der als Feldscher an Kriegszügen teilgenommen hatte, wirkte maßgeblich für die "Professionalisierung der Wundarznei" (161). Er hatte die akademische Qualifikation noch nachträglich erworben, stufte sie aber selbst als sekundär ein, während seine studierten Söhne bereits lateinisch publizierten. Der "rechte Medicus", so Geiger, dürfe Chirurgie nicht allein "aus Büchern daher plappern" (149). Der Band schließt mit einem weiteren hochinteressanten Artikel von Felix Sommer (Bonn) über "Psychiatrie im Dienst der Politik", in dem u. a. das Gutachten von Guddens (1886) über König Ludwig II. von Bayern behandelt wird. [5] Zu Gunsten des Verfassers möchten wir annehmen, dass die die Lektüre störenden genderpolizeilichen Sternchen (Psychiater*in usw.) doch eher ironisch gemeint sind.
Ein höchst reichhaltiger Band also, mit wertvollen Bibliographien zu jedem Beitrag und einem Personenregister, und eine Publikation, die auf geradezu exemplarische Weise alle eines Besseren belehren kann, die etwa meinen, Medizingeschichte sei eine bloß fachhistorische Randzone der Frühneuzeitforschung.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Christian Kaiser: Epikur im lateinischen Mittelalter, Turnhout 2019. Auf die initiatorische Bedeutung des Lukrez bei Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann, deutsch München 2012, wird nicht eingegangen.
[2] Vgl. Herbert Jaumann: Iatrophilologia. Medicus philologus und analoge Konzepte in der frühen Neuzeit, in: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem der frühneuzeitlichen Philologie, hg. von Ralph Häfner, Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit; Band 61), 151-176.
[3] Dazu immer die umfassende, durch weitläufige Kommentierung erschlossene und den Anti-Paracelsismus einbeziehende Dokumentation: Der Frühparacelsismus, hg. und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle, Tübingen 2001-2013, 3 Teile in 4 Bänden (Corpus Paracelsisticum).
[4] Vgl. Sabine Schlegelmilch: Ärztliche Praxis und sozialer Raum im 17. Jahrhundert: Johannes Magirus (1615-1697), Köln, Weimar, Wien 2018, sowie Sabine Sander: Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe, Göttingen 1989.
[5] Vgl. Felix Sommer: Psychiatrie und Macht, Bern u. a. 2009.
Herbert Jaumann