Rezension über:

Charles Reeve: Der wilde Sozialismus. Selbstorganisation und direkte Demokratie in den Kämpfen von 1789 bis heute. Aus dem Französischen übersetzt von Felix Kurz, Hamburg: Edition Nautilus 2019, 333 S., ISBN 978-3-96054-210-0, EUR 30,00
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Rezension von:
Jens Benicke
Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Jens Benicke: Rezension von: Charles Reeve: Der wilde Sozialismus. Selbstorganisation und direkte Demokratie in den Kämpfen von 1789 bis heute. Aus dem Französischen übersetzt von Felix Kurz, Hamburg: Edition Nautilus 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 11 [15.11.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/11/35237.html


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Charles Reeve: Der wilde Sozialismus

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"Wilder Sozialismus" - mit dieser abwertend gemeinten Bezeichnung grenzten sich die Vertreter der "offiziellen" Arbeiterbewegung in den Parteien und Gewerkschaften von den dissidenten Strömungen in ihren Reihen ab. Sowohl die reformistischen Parteien der Zweiten Internationale, zu denen vor allem die deutsche SPD zählte, als auch die revolutionären Vereinigungen, die sich um die russischen Bolschewiki sammelten, agierten und agitierten gegen die Häretiker am linken Rand. Lenin verfasste sogar eigens ein Buch gegen den linken Radikalismus. Darin forderte er die disziplinierte Mitarbeit aller Kommunisten in den bestehenden Gewerkschaften und die verbindliche Teilnahme der kommunistischen Parteien an den parlamentarischen Wahlen [1].

Demgegenüber standen die Strömungen in den sozialen Kämpfen, die auf Selbstorganisation und direkte Demokratie setzten, ohne die Macht an Führer oder Parteien zu delegieren. Die Geschichte dieser, heutzutage oftmals vergessenen, "wilden" Momente und Fraktionen in den linken Bewegungen zeichnet Charles Reeve in seinem Buch nach. Er folgt dabei dem "mühsamen und steilen Weg des wilden Sozialismus, der von der Französischen Revolution bis zu Occupy Wallstreet führt". (9)

Der Autor, geboren 1945 in Lissabon, lebt seit seiner Desertion aus der portugiesischen Kolonialarmee 1967 als Aktivist und Schriftsteller in Paris. Er hat unzählige Bücher veröffentlicht, von denen bisher leider nur die wenigsten ins Deutsche übersetzt wurden. Vor diesem biografischen Hintergrund sieht er sein Buch auch nicht als geschichtswissenschaftliche Untersuchung, sondern als Essay und schreibt über seine Motivation: "Das vorliegende Buch behandelt die verschiedenen revolutionären Phasen der sozialistischen Bewegung nicht in der Manier eines Historikers, auch wenn die Geschichte offenkundig im Mittelpunkt unserer Reflexion steht. Vielmehr kommt es auf sie zurück, um sich aus der Perspektive häretischer Sozialismuskonzeptionen mit ihnen auseinanderzusetzen - bruchstückhaft, manchmal kursorisch und immer parteiisch." (7)

Und so folgt der Autor dem "wilden Sozialismus" von der Französischen Revolution über die Pariser Kommune, über die Revolutionen in Russland von 1905 und 1917 und Deutschland von 1918 bis 1920, dem spanischen Bürgerkrieg, der weltweiten Bewegung von 1968, der Nelkenrevolution in Portugal bis in die heutigen globalen sozialen Bewegungen. Trotz dieser sowohl thematisch als auch zeitlich breiten Auswahl ist sich Charles Reeve bewusst, dass im Buch zahlreiche Episoden des "wilden Sozialismus" nicht beachtet werden konnten, etwa die Revolten der Arbeiter im stalinistischen Ostblock, von der DDR 1953, über Ungarn 1956, bis hin zu Polen 1956 und 1970 und zahlreichen weiteren Brennpunkten rund um die Welt. Jedoch beschränkte die Form des Essays die Auswahl. In den herausstechensten Ereignissen suchte er die Momente der Selbstregierung der Beteiligten, die regelmäßig mit den Prinzipien der Vertretung und der dauerhaften Machtdelegation in Konflikt gerieten und die historisch diesen Kampf bisher auch immer verloren haben. Statt der erhofften Vergesellschaftung der Produktionsmittel folgte immer nur die Verstaatlichung. Und ebenso wurde auch die Macht verstaatlicht. Sich diesem Trend widersetzend, fahndet der Autor mit unerschütterlichem Optimismus in seinen zahlreichen historischen und aktuellen Beispielen nach Spuren nichtetatistischer Vergesellschaftung. Folgerichtig betrachtet er die Aktivitäten der anarchistischen Fraktionen in den Revolutionen mit großer Sympathie, ohne diese aber kritiklos zu affirmieren. So kritisiert er etwa den Eintritt anarchistischer Minister in die Volksfrontregierung in Spanien im Namen des Antifaschismus schonungslos als Aufgabe ihrer Positionen.

Große Sympathie bringt er auch den Analysen der als rätekommunistische Strömung bekanntgewordenen Fraktion der Arbeiterbewegung entgegen [2]. Diese hätten, so der Autor, oftmals nach dem Abflauen der Kämpfe die zutreffendsten Analysen über die Stärken und Schwächen der Bewegung erstellt. Das Rätesystem steht für Charles Reeve "[...] als Geist von Kämpfen und von Selbstorganisation mit dem Ziel einer Aufhebung der Trennung von Politik und Ökonomie" (272) für die Prinzipien des "wilden Sozialismus". Doch warnt er auch vor eine Fetischisierung dieser Organisationsform als einzig möglicher. Diese sei historisch zu begreifen und nicht ein für alle Mal festzuschreiben, "[...] denn die Rolle einer jeden Organisation verändert sich mit den geschichtlichen Umständen". (281)

Diese undogmatische Herangehensweise machen das Buch zu einem hervorragenden Ein- und Überblick über die Geschichte der dissidenten Strömungen der Arbeiterbewegung und zeigt, dass die sozialen Revolutionen auch einen anderen Ausgang hätten nehmen können, jenseits von autoritärer Partei- und Staatsherrschaft. Wer sich über diesen Möglichkeitshorizont informieren will, dem sei dieses Buch empfohlen. Aber auch allen geschichtswissenschaftlich Interessierten sei es ans Herz gelegt, da es Charles Reeve darin gelingt, die meist vergessene und verdrängte Geschichte des "wilden Sozialismus" auch in vermeintlich schon hinlänglich erforschten Episoden der Historie zu beleuchten. Besonders hervorgehoben werden muss dabei das Kapitel zur portugiesischen Nelkenrevolution, da darin die beschriebene Leistung des Autors besonders deutlich zum Vorschein kommt.


Anmerkungen:

[1] Wladimir Iljitsch Lenin: Der "linke Radikalismus", die Kinderkrankheiten im Kommunismus, in: Ders.: Werke, Bd. 31, April-Dezember 1920, Berlin (Ost) 1972, 1-91.

[2] Frits Kool (Hg.): Die Linke gegen die Parteiherrschaft. Dokumente der Weltrevolution, Bd. 3, Olten / Freiburg/Brsg. 1970.

Jens Benicke