Constantin Goschler / Marcus Böick / Julia Reus (Hgg.): Kriegsverbrechen, Restitution, Prävention. Aus dem Vorlass von Benjamin B. Ferencz (= Archiv jüdischer Geschichte und Kultur; Bd. 4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 720 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31116-5, EUR 130,00
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Auf den ersten Blick könnte man meinen, das Leben Benjamin Ferencz' eigne sich wie kein zweites, um die Geschichte des Völkerrechts im 20. Jahrhundert als einen Prozess fortschreitender Humanitarisierung darzustellen und dabei dieses Erfolgsnarrativ in einer Einzelperson zu spiegeln: Als Kind jüdischer Immigranten in New York aufgewachsen, war der Harvard-Absolvent mit nur 27 Jahren Chef-Ankläger im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess. Im Alter von 91 Jahren wurde ihm dann die Ehre zuteil, nach jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit staatlichen Gewaltverbrechen das Schlussplädoyer im ersten Verfahren zu halten, das vor dem 1998 gegründeten Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geführt wurde. Doch schon ein zweiter Blick trübt das Bild. Ferencz' Tätigkeit als Nürnberger Ankläger ebnete ihm nicht etwa den Weg für eine juristische Karriere. Es folgten Jahre, in denen er sich als Vertreter jüdischer Organisationen und als Anwalt für die Wiedergutmachung der Opfer des Nationalsozialismus einsetzte. Er tat dies durchaus mit Erfolg, doch öffentliche Anerkennung blieb ihm verwehrt. Dasselbe galt für seine akademische Karriere, die er erst in den 1970er Jahren begann.
Vielleicht sind es aber gerade diese biographischen Brüche und Rückschläge, die Ferencz Lebenslauf zu einer geeigneten Sonde machen, um die Auseinandersetzung mit staatlicher Gewalt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erkunden. Constantin Goschler, Marcus Böick und Julia Reus haben nun eine Quellenedition herausgegeben, die anhand des Vorlasses von Ferencz eine biographische Annäherung an die Themen Kriegsverbrechen, Restitution und Kriegsprävention verspricht: "Die Dokumente sollen nicht nur einen Blick auf Ferencz eröffnen, sondern auch auf die Strukturen, innerhalb derer er sich bewegte, und die Menschen, mit denen er sich auseinandersetzte." (49) Das Editionsprojekt fügt sich auf diese Weise in ein fruchtbares Forschungsfeld, das die Geschichte des Rechts im 20. Jahrhundert über biographische Zugänge erschließt.
Die Quellensammlung ist benutzerfreundlich aufgebaut. In einer ausführlichen Einleitung gewinnt der Leser einen Überblick über das Leben Ferencz' und erhält wichtige Hilfestellungen mit Blick auf die Einordnung der Dokumente. Die 232 abgedruckten Quellen sind in neun thematische Kapitel gegliedert: Ferencz' Zeit bei der U.S. Army, als er erstmals in Berührung mit der strafrechtlichen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen kam, die Nürnberger Prozesse, Ferencz als Leiter jüdischer Organisationen im Bereich der Rückerstattung und Entschädigung, sein Engagement für Entschädigungsforderungen jüdischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter an die deutsche Industrie, für die Opfer deutscher Ärzte, für den deutschen Ableger der B'nai B'rith, seine Bemühungen, die DDR zu einer Globalentschädigung für jüdische NS-Opfer zu bewegen, Ferencz als Anwalt jüdischer NS-Opfer in Wiedergutmachungsverfahren vor deutschen Gerichten und als Verfechter des internationalen humanitären Rechts und der Menschenrechte.
Die Kapitel unterscheiden sich erheblich hinsichtlich ihrer Aussagekraft. Jene Quellen, in denen es um Entschädigung und Wiedergutmachung geht, stammen von einem Ferencz, der eingebunden war in Organisationen und Schlüsselfunktionen einnahm. Das ermöglichte es ihm, direkten Einfluss auf die Gestaltung politischer Entscheidungen und auf den Verlauf von Gerichtsprozessen zu nehmen. Diese Dokumente helfen dabei, Ferencz' Rolle im Bereich der Restitution zu bestimmen.
Anders sieht es bei den Themen Kriegsverbrechen und Völkerrecht aus. Der Band enthält keine Dokumente aus Ferencz' Zeit als Nürnberger Ankläger, sondern lediglich Rückblicke. Sie machen erkennbar, wie Co-Herausgeber Goschler in seiner Einleitung plausibel argumentiert, welches "soziale und symbolische Kapital" (52) Ferencz aus dieser Tätigkeit zog. Und zum Teil lassen diese Dokumente auch die für den Juristen typischen Charakterzüge erkennbar werden. Ein Interview, das er 1984 mit John McCloy, dem ehemaligen Hochkommissar in Deutschland, führte, besteht zum größten Teil aus Ferencz' eigenen Reflektionen über Nachkriegsdeutschland (Dok. 14). Er sprach nun einmal sehr, sehr gerne.
Schwieriger wird die Einordnung mit Blick auf die in Kapitel 9 versammelten Quellen. Man findet hier Briefwechsel mit durchaus prominenten und einflussreichen Vertretern des Völkerrechts wie Cherif Bassiouni (Dok. 179 f.). Doch es wird auch klar, dass Ferencz seit 1970 als Einzelkämpfer agierte. Eine maßgebliche Teilnahme an entscheidenden Weichenstellungen auf dem Feld des internationalen Strafrechts ist nicht erkennbar. Die Quellensammlung trägt deshalb auch nur sehr begrenzt zur Beantwortung der Frage nach der Bedeutung Ferencz' für das Völkerrecht bei, weil die Zeit ab Mitte der 1990er Jahre, als er im Zuge der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs zu einer Symbolfigur aufgebaut wurde, nicht abgebildet ist - ein Umstand, der der Entscheidung geschuldet ist, lediglich Dokumente aus dem 1994 abgeschlossenen Vorlass abzudrucken. Auf diese Weise bleibt genau jener Abschnitt im Leben Ferencz' außen vor, in dem der "Mythos" (47) um den ehemaligen Nürnberger Ankläger begründet wurde.
Es drängt sich deshalb die Frage auf, auf welcher Grundlage Goschler Ferencz als "wichtigen Akteur" des "internationalen humanitären Rechts und der Menschenrechte" bezeichnet (68). Doch solche Zweifel schmälern die Relevanz der Quellensammlung nicht, die einen aufschlussreichen Längsschnitt zu den Themen Kriegsverbrechen und Restitution bereithält - zumal die Bedeutung Ferencz' für die Geschichte des 20. Jahrhunderts eben nur zum Teil in der Bedeutsamkeit seines eigenen Handelns lag.
Daniel Stahl