Rezension über:

Christin Jänicke / Benjamin Paul-Siewert (Hgg.): 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland. Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung, 4. Aufl., Münster: Westfälisches Dampfboot 2020, 208 S., ISBN 978-3-89691-102-5, EUR 20,00
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Rezension von:
Paul Räuber
Universität Rostock
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Paul Räuber: Rezension von: Christin Jänicke / Benjamin Paul-Siewert (Hgg.): 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland. Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung, 4. Aufl., Münster: Westfälisches Dampfboot 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 12 [15.12.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/12/34815.html


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Christin Jänicke / Benjamin Paul-Siewert (Hgg.): 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland

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Pünktlich zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit ist die vierte Auflage des Bandes "Antifa in Ostdeutschland" erschienen. Die Herausgeberin Christin Jänicke und der Herausgeber Benjamin Paul-Siewert erheben darin den Anspruch, die "Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung" zu erweitern. Notwendig sei dies, weil der organisierte Antifaschismus in Ostdeutschland viele Eigenheiten aufweise. Angesichts der grassierenden Gewalt der Neonazis Anfang der 1990er Jahre prägte vor allem der militante Selbstschutz die Szene. Das ist jedoch nur das augenfälligste Merkmal, dem Jänicke und Paul-Siewert auf der Spur sind.

Mit ihrem Vorhaben wollen sie eine widersprüchliche Forschungslücke schließen. Zum einen ist die antifaschistische Bewegung ein schwieriger Gegenstand für die Wissenschaft; zu unterschiedlich sind die Strukturen, zu wichtig ist den Aktivistinnen und Aktivisten die schützende Anonymität. Zum anderen ist die Literatur aus der Bewegung selbst überschaubar und vom westdeutschen Blick dominiert, wie dies der Historiker Yves Müller in seinem Beitrag überzeugend belegt (63). Es bestehen also viele Gründe, warum gerade solch ein Buchprojekt für die Forschung über den Aktivismus der Antifa-Bewegung von Bedeutung ist. Doch bietet es darüber hinaus auch eine interessante Lektüre?

Die kurze Antwort ist: Ja. Dafür muss die geneigte Leserschaft jedoch einiges an Eigeninitiative und stellenweise auch Toleranz für soziologische Satzungetüme mitbringen. Die elf Beiträge auf etwa 200 Seiten sind allerdings wohl überlegt gegliedert. Im Zentrum stehen die lebendigen Erzählungen von Aktivistinnen und Aktivisten, die zuvor ausführlich kontextualisiert werden. Abschließend gewähren die Artikel einen umfassenden Einblick in wichtige Themenfelder der Antifa in Ostdeutschland.

Dietmar Wolf, Mitbegründer der Ostberliner Antifa und Redakteur der Zeitschrift telegraph, eröffnet den Hauptteil. Was er zu berichten hat, ist nicht weniger als ein zeithistorischer Krimi. Dieser handelt von jungen Antifas aus der DDR-Opposition, dem Zugriff der Staatssicherheit und rechter Gewalt Ende der 1980er Jahre. In zahlreichen Fallbeispielen untersucht Wolf vor allem den Konflikt der Dissidentinnen und Dissidenten mit einem Staat, der hilflos im Umgang mit Neonazismus war und das reklamierte antifaschistische Monopol verbissen verteidigte.

Der Autor erzählt die Ereignisse wenig reißerisch, wobei er Raum für Zwischentöne lässt, die in der Auseinandersetzung mit dem Ende der DDR allzu oft fehlen. Die Lust an der Lektüre schwindet allerdings infolge von halbseitigen Quellenzitaten und Erläuterungen des DDR-Jargons durch umfangreiche Fußnoten.

Jakob Warnecke hingegen entwickelt in seinem Artikel mit ähnlichem Gegenstand stringente Thesen bei analytischer Tiefe und erweitert den Beobachtungszeitraum auf die frühen 1990er Jahre. Der Untergang der DDR und das entstandene Machtvakuum eröffneten nämlich völlig neue Handlungsspielräume. In der Aussage eines ehemaligen Hausbesetzers erkennt Warnecke ein Paradox, das auch andere Beiträge erhellt: "[D]er okkupierte 'Freiraum' [wurde] sofort zum 'Käfig' umgebaut" (55). Genau diese historische Situation prägte das Besondere der ostdeutschen Antifa. Ohne sich bevormunden zu lassen, kreierten die jungen Aktivistinnen und Aktivisten Lebensformen, die wenige Monate zuvor noch unvorstellbar gewesen waren. Gleichzeitig sahen sie sich einer feindlichen Umwelt ausgesetzt, die die Neonazi-Schläger gewähren ließ.

Den ersten Teil beschließt Yves Müllers Aufsatz über das schwierige Verhältnis der ost- und westdeutschen Antifa-Gruppen zueinander. Er analysiert die Beziehung anhand des Quellenmaterials, das die damals einflussreiche Autonome Antifa (M) aus Göttingen zugänglich gemacht hatte. Die so archivierten Protokolle schlüsselt Müller auf, indem er dem paternalistischen Blick auf den Osten Rechnung trägt. Erstmalig nutzt er die konfligierenden Hintergründe beider Strukturen als Analysefolie. Nicht zuletzt habe das beidseitige Unverständnis daraus resultiert, dass die bundesweite Organisation der westdeutschen Antifa mit ihrer antiimperialistischen Attitüde und "straffen Organisation" (68) im Osten auf Unwillen und Unverständnis stieß.

Die Herausgeberin und der Herausgeber zeichnen in ihrem Aufsatz die militante Radikalisierung der ostdeutschen Antifa nach. Dafür werten sie ein Gruppeninterview aus und legen den Fokus auf das subjektive Verständnis von Militanz. Dieses habe sich über das Stadium des Selbstschutzes bis hin zur "Gegenmacht" (102) entwickelt. Der ausschlaggebende Punkt für die Radikalisierung sei die sich zuspitzende Gewalt von rechts gewesen. Es handelt sich hierbei um eine einleuchtende und mit Hilfe der eingeflochtenen Interviews plausible Erklärung. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werfen die Schlüsselkontroversen der antifaschistischen Militanz auf und thematisieren, wie als notwendig erachtete Gewalt zum Selbstzweck verkam oder die aufgebaute Gegenmacht in der bandenmäßigen Aufteilung von Revieren mündete; die Nazis in den Neubauvierteln, die Antifas in der Innenstadt. Das Fazit Jänickes und Paul-Siewerts bleibt allerdings oberflächlich, wenn sie konstatieren, dass Gefühle, der Wunsch nach Handlungsfähigkeit und die politische Einstellung "Spannungsfelder" ergeben hätten, "die nicht aufzulösen waren". (113)

Im letzten Teil geht Marek Winter der Frage nach, warum antideutsche Theorien und Praktiken im Osten so erfolgreich waren. Dazu räumt er mit einigen Gewissheiten über diese Mitte der 1990er Jahre entstandene Strömung auf, die "auf Antifaparties Prosecco" (182) getrunken habe und in der deutschen Bevölkerung nicht mehr das revolutionäre Subjekt erkennen wollte, sondern das Fortleben der NS-Volksgemeinschaft. Die heute oft als einziges Merkmal wahrgenommene Solidarität mit Israel hätte im Osten zum Beispiel erst später ihre deutliche Ausprägung gefunden. Winter geht davon aus, dass es sich bei der Entstehung der Antideutschen auch um einen Konflikt der ostlinken Generationen gehandelt habe, in dem sich die Jüngeren selbstkritisch mit der deutschen Geschichte auseinandersetzten. Von diesem Punkt ausgehend, verfolgt er auf erhellende Weise die Wendungen und Kontroversen der Subkultur bis zu ihrem Aufgehen in der postautonomen Bewegungslinken.

Im Gesamtzusammenhang ergibt sich, dass die Beiträge nicht nur inhaltliches Neuland betreten und erstmals Quellenmaterial auswerten, sondern auch die Zielsetzung der Herausgebenden gelungen umsetzen. Sie suchten, einen Schnittpunkt zwischen Bewegung und Forschung zu schaffen, der zum Reflektieren einlädt. Aktivistinnen und Aktivisten, die nach Ursachen für die vielen Besonderheiten der Antifa in Ostdeutschland fragen, ist mit diesem Buch geholfen. Gleichzeitig liefert der Band viele vorher nicht vorhandene Ansätze für die Wissenschaft.

Dennoch überschattet das bunte Methodenpotpourri der unverbunden nebeneinanderstehenden Aufsätze die stets vorsichtigen Deutungsversuche. Auch wenn es nicht um eine nachträgliche Bewertung der Ereignisse gehen sollte, stößt der beschreibende Stil vielfach an seine Grenzen. So wäre es nur mutig gewesen, angesichts von vermeintlich nicht aufzulösenden Spannungsfeldern in Bezug auf die Militanz neue Thesen zu formulieren oder auch Alternativen anzudenken. Es ist daher kein Zufall, dass vor allem die zeithistorisch arbeitenden Beiträge zu den stärkeren gehören. Hier werden die Quellen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ergänzt und der historische Kontext einbezogen. Die Prämisse, nach der die subjektiven Erzählungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als solche stehen gelassen werden, verschenkt einiges an Potenzial. Sie werden zu wenig kontextualisiert und noch seltener als Selbstdarstellung begriffen. Dennoch braucht es eine weitere Beschäftigung mit der Antifa in Ostdeutschland. Vielleicht auch einen zweiten Band mit weiteren ungehörten Geschichten.

Paul Räuber